kurtjungsehrWie mir plötzlich eine zweite, slawische Großmutter zugewachsen ist

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpressdo) - Im Nachlass meines Vaters habe ich in einer verschlissenen Mappe Urkunden aus dem Jahr 1941 gefunden, als Nazideutschland zum tödlichen Schlag gegen die Juden in Europa ansetzte. Ich war damals vierzehn Jahre alt und besuchte die Wirtschaftsoberschule. Das hat den sudetendeutschen Vasallen Hitlers von Anfang an nicht gefallen. Ich war schließlich der  Sohn eines weithin bekannten ehemaligen kommunistischen Parteisekretärs.

Hinzu kam, dass die  braunen Schergen auch einen jüdischen Hintergrund vermuteten. Sie legten meinem Vater jedenfalls  eine Erklärung mit der Aussage zur Unterschrift vor, dass  weder ihm noch seiner Gattin Umstände bekannt seien, welche die Annahme rechtfertigen könnten, dass sie von jüdischen Eltern  oder Großeltern abstammten. Damit gaben sich die Nazis aber nicht zufrieden. Mein Vater musste auch noch eine Geburtsurkunde und ein Taufzeugnis beibringen. Daraus ging hervor, dass ich konfessionslos war, aber im Alter von vier Jahren nach der Trennung der Eltern auf  Betreiben der Mutter katholisch getauft worden bin.

Dies alles wäre nicht der Rede wert, hätte ich nicht eine Entdeckung gemacht, die mein Leben zwar nicht auf den Kopf stellte, mich aber doch zum Nachdenken über meine Herkunft und mein Verhalten in bestimmten Situationen veranlasste. Ich entdeckte, dass ich neben unserer guten alten Oma eine zweite Großmutter mit tschechischen Wurzeln hatte, eben jene Sophie Pawelka, die Mutter meines Vaters. Für sich genommen bedeutet das nicht viel. Aber woher kam es, dass mein Vater so fließend Tschechisch sprach und auch die schwierige Grammatik  perfekt beherrschte? Hatte er die Sprache in einem tschechischen Elternhaus gelernt?

Wie auch immer – unsere gute alte Oma hatte auch einen tschechischen Namen, sie hieß Sedlatschek. Das Wort wird von Sedlak hergeleitet, was auf Deutsch Bauer heißt, so wie der Name Pawelka auf den Vornamen Pawel zurückgeht. Von Geburt an hieß Oma Pospischil. In grauer Vorzeit war sie Verwalterin des deutschen Vereinshauses in Mährisch-Schönberg, auf dessen Bühne der berühmteste Sohn der Stadt, der Tenor Leo Slezak, häufig gastierte. Sie beherrschte die tschechische neben der deutschen Sprache quasi im Schlaf. Ich selbst habe die Sprache meines Geburtslandes in einem tschechischen Kindergarten gelernt, weil es einen anderen nicht gab.

Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht änderte sich alles. Als sich die deutschen Antifaschisten nach dem Zweiten Weltkrieg entscheiden mussten, ob sie die tschechische Staatsangehörigkeit zurück haben oder das Land verlassen wollten, entschied ich mich für das Zweite. So landete ich mit einem Transport sudetendeutscher Sozialdemokraten im Westen.

Als ich dort heiraten wollte, bedurfte es einiger Überredungskunst, bis sich der Standesbeamte  dazu herabließ, mir die deutsche Staatsangehörigkeit zuzubilligen.

Aber wie deutsch war ich  wirklich?  Warum wurde mir  bei der Übertragung von Länderspielen warm ums Herz, wenn im Radio die tschechische Nationalhymne zu hören war? Warum hielt ich eher zur  tschechischen Mannschaft als zur deutschen? Das muss mit meiner Kindheit zu tun haben. Ich habe die schwermütige Melodie  in einer deutschen Schule gelernt. Ein deutscher Lehrer hat sie uns unter der Nationalflagge der ersten Tschechoslowakischen Republik beigebracht. Auch den Anfang des deutschen Textes habe ich noch im Ohr.  „Wo ist mein Heim, mein Vaterland . . .“

Dass ich beim Abspielen der deutschen Nationalhymne nicht in jedem Fall „Einigkeit und Recht und Freiheit“ höre, sondern immer noch das dröhnende „Deutschland, Deutschland über alles“  kann ich nicht ändern, erst recht nicht, seit mir Sophie Pawelka begegnet ist.   Dazu reichen meine Wurzeln wohl doch zu tief in den von den Tränen beider Seiten getränkten slawischen Boden.

Foto:
Der Enkel Kurt
©privat