Yves Kugelmann
London (Weltexpresso) - Die Debatten toben. Fatale Brexitkonsequenzen, moralisch verwerfliche und teils Gesetzen zuwiderlaufende Partys am Sitz des Premierministers, Skandale im Königshaus und zuletzt der erneute Angriff auf das journalistische Flaggschiff BBC durch Geldentzug: Der Inselstaat zermürbt sich in diesen Tagen selbst und steht exemplarisch für die immer virulenter werdende Lüge im öffentlichen Raum.
Zu was dies führen kann, zeigt etwa eine jüngere Studie in den USA. Donald Trumps Lüge vom geklauten Wahlsieg im Jahre 2020 glaubt heute die Mehrheit seiner Wählerinnen und Wähler bzw. der Mitglieder der republikanischen Partei. Die vorsätzliche Lüge ist de facto längst legalisiert. Demokratien kommen ihr nicht mehr bei, können nicht mehr mit dem besseren, wahreren Argument überzeugen. Eskaliert eine Lüge aufgrund parlamentarischer Koalitionsmechanismen, führt sie im seltensten Fall zu zeitnahen Konsequenzen.
Was schön gedacht ist, führt in der Realität zum Booster für die Lüge: Die Immunität schützt Politikerinnen und Politiker vor allfälliger willkürlicher Strafverfolgung. Sie können für Reden in Parlamenten und Gremien in der Regel nicht zur Rechenschaft gezogen werden, sind geschützt vor Strafverfolgung von strafbaren Handlungen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der amtlichen Tätigkeit oder Stellung stehen. Geschützt wird die Funktion, Parlamente können über die Aufhebung der Immunität entscheiden.
Die Lüge, auch die vorsätzliche, von Politikerinnen und Politikern ist nichts Neues. Doch immer mehr fordert sie die internationalen, nationalen, lokalen Gesellschaften heraus. Lügen werden schamloser, wirkungsreicher, komplexer und undurchdringbarer. Spindoktoren, Kommunikationsabteilungen und -berater modellieren Inhalte. Im guten Fall führt das zu mehr Transparenz, oft aber eben zum Gegenteil. Da wird kaschiert, verdunkelt, weggelassen, selektiv informiert, nicht die Wahrheit, sondern Politikerinnen und Politiker werden profiliert. Wo etwa in der Wirtschaft bei Falschinformation der Rechtsstaat viel rascher Zugriff hat, geniessen Politikerinnen und Politiker Schutz. Die offene Gesellschaft gefährdet sich selbst.
Die Manipulation durch modellierte Information findet indessen nicht nur in der medial breit sichtbaren und verhandelten Politik statt, sondern gerade auch in Verbänden bis hin zur Zivilgesellschaft. Lügen an vorderster Front werden kaum geahndet. Sie sind Teil einer pervertierten Gesellschaft geworden, die Lügner in der Regel rascher ans Ziel kommen lässt als jene, die versuchen redlicher zu politisieren oder dagegen zu wirken. Die Lüge ist längst nicht mehr Privileg von Despoten und Diktatoren. In feinerer – und nicht mal dies – Form torpediert sie die offene Gesellschaft, getriggert von digitalen Möglichkeiten. Die manipulative Einflussnahme über das Internet, mit Kommunikationsagenturen oder einschlägigen Dienstleistern ist längst nicht nur den Trumps, Putins und Co. vorbehalten. Verschwörungstheorien greifen nicht nur zusehends um sich, sondern werden geradezu verwertet und genutzt. Nicht jede Lüge führt zum Massenmord – doch im Vorfeld des europäischen Holocausttages nächste Woche kann es nicht mehr nur um das verordnete zeremonielle Pflichtgedenken, sondern es muss um viel mehr gehen.
Der Eid auf Bibel und Gesetz ist zur Farce geworden, wenn Immunität die vorsätzliche, beabsichtigte, die manipulierende Lüge wider besseren Wissens schützt, konsequenzlos bleiben lässt und letztlich von parlamentarischen Mehrheiten auch in Bezug auf den Entzug der Immunität abhängt. Die Immunität gehört abgeschafft. Politikerinnen und Politiker gehören in den Haftungsbereich wie alle Bürgerinnen und Bürger. Das selbst regulierende System schafft es gegen die Lüge nicht mehr und ist Verschwörungstheorien nicht gewachsen. Doch oft sind gerade Politikerinnen und Politiker Komplizen von solchen Theorien und nicht Verteidiger der Gesellschaft. Aussitzen, durchstieren, Rechenschaftsentzug, das funktioniert zu oft, wie sich in diesen Tagen in Londons Regierungskrise ebenso zeigt wie in der Causa Bührle, in der alle Akteure unbelangt am Sessel kleben, nachdem nicht zuletzt die Stimmbevölkerung jahrelang manipuliert und belogen wurde und bis heute von allen Seiten nicht wahrheitsgemäss kommuniziert wird. Was in der kleinen Politik exemplarisch ist, bleibt in der Weltpolitik eine schier unlösbare Herausforderung: Politik nach bestem überprüfbarem Wissen und redlichem Gewissen für das Gemeinwohl.
Der europäische Holocausttag ist längst zur Plattform zu vieler verlogener Reden und Worthülsen geworden. So wichtig er ist, so beeindruckend, redlich, imposant viele Projekte der Zivilgesellschaft oder Bildungseinrichtungen sind, so verlogen wird er oft politisch instrumentalisiert von Politikern, Funktionären, Komplizen. Das Londoner Spektakel dieser Tage ist Symptom für einen Virus in sogenannten aufgeklärten Gesellschaften, gegen den es keine Impfung geben wird. Doch die Abschaffung von Immunität, die Organverantwortung, wie sie etwa in der Wirtschaft funktioniert, und ein verstärktes Öffentlichkeitsprinzip mit Einsicht in Gremien und Akten könnten dort abhelfen, wo Rücktritte, Einsatz von Justiz nicht rasch erfolgen. Denn letztlich sollen die Bürgerinnen und Bürger, das hohe Gut der Wahrheit und nicht primär Politikerinnen und Politker geschützt werden.
Foto:
©t-online.de
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 21. Januar 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.
Der europäische Holocausttag ist längst zur Plattform zu vieler verlogener Reden und Worthülsen geworden. So wichtig er ist, so beeindruckend, redlich, imposant viele Projekte der Zivilgesellschaft oder Bildungseinrichtungen sind, so verlogen wird er oft politisch instrumentalisiert von Politikern, Funktionären, Komplizen. Das Londoner Spektakel dieser Tage ist Symptom für einen Virus in sogenannten aufgeklärten Gesellschaften, gegen den es keine Impfung geben wird. Doch die Abschaffung von Immunität, die Organverantwortung, wie sie etwa in der Wirtschaft funktioniert, und ein verstärktes Öffentlichkeitsprinzip mit Einsicht in Gremien und Akten könnten dort abhelfen, wo Rücktritte, Einsatz von Justiz nicht rasch erfolgen. Denn letztlich sollen die Bürgerinnen und Bürger, das hohe Gut der Wahrheit und nicht primär Politikerinnen und Politker geschützt werden.
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 21. Januar 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.