DAS JÜDISCHE LOGBUCH Mitte April
Yves Kugelmann
Brüssel (Weltexpresso) - Eine eigentümliche Stimmung. Wenig Betrieb vor dem Europäischen Parlament. Die Fahnen der Mitgliedstaaten wehen im leichten Wind harmonisch, in der Sonne glänzt die Europafahne. Vom Krieg in der Ukraine ist wenig zu spüren.
Sind es die ruhigen Tage vor dem Sturm? Wird er überhaupt kommen in Form neuer russischer Eskalationen, Offensiven, Kriegsverbrechen? Wird der Winter 2022 mit Energieknappheit, Wirtschaftskrisen, Flüchtlingsströmen neuen Covid-Varianten- und Wellen der grosse Horror werden? Oder kommt bald der Waffenstillstand und der reale Spuk ist vorbei? Wie kann eine demokratische Wertegesellschaft mit Krisen, existentiellen Herausforderungen umgehen, ohne Konzessionen bis zum Selbstverrat einzugehen?
Schweigen am Hauptsitz
Vor der grossen Synagoge in Brüssels Zentrum stehen ein paar jüdische Besucher. Die Synagoge ist noch geschlossen an diesem Nachmittag. Am Hauptsitz des Europäischen Jüdischen Kongresses (EJC) ist wieder einmal niemand zu erreichen. Seit Monaten hat tachles versucht, dem Präsidium Fragen zur Situation der Juden in der Ukraine und den damit verbundenen EJC-Aktivitäten zu stellen. Inzwischen ist Präsident Mosche Kantor zurückgetreten (vgl. S. 18 und tachles 14/2022).
Unter Kantors Präsidentschaft haben sich Europas Juden immer mehr an Russland angenähert. Regelmässig besuchten Delegationen jüdischer Verbände Vladimir Putin auch noch nach seinem Überfall der Krim und zementierten das Narrativ, dass es in Russland keinen Antisemitismus gäbe. So auch im Januar 2016. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund nahm mit Präsident Herbert Winter an einem Besuch bei Putin teil und notierte: «Am Treffen wurde über die Lage für Juden in Europa und den Kampf gegen den globalen Terrorismus gesprochen. EJC-Präsident Moshe Kantor legte Putin dar, dass der Antisemitismus in mehreren europäischen Ländern zugenommen habe und erklärte, dass die Juden in Frankreich sehr besorgt sind. Der russische Präsident meinte, dass die Juden nach Russland auswandern sollten – man sei bereit, diese aufzunehmen.»
Stolz posieren die zehn Funktionäre begleitet von Chabad-Rabbiner und Putin-Intimus Barel Lazar auf Fotos. Die Kriegsverbrechen in Syrien wurden nicht angesprochen, berichtet ein Teilnehmer der Reise. Ebenso wurden Antisemitismus, der Neonazismus, der Rechtsextremismus in Russland nicht angesprochen. Anders in den USA im US-Holocaustmuseum Washington: Dort zeigt das Museum kurz darauf eine Ausstellung, die die Kriegsverbrechen des Assad-Regimes und der russischen Truppen an der Zivilbevölkerung thematisiert. Russlands Verbrechen werden offen benannt, jüdische Organisationen zeigen mit dem Finger auf sie. In Europa gilt im EJC allerdings die Devise «Macht durch Geld statt Basisdemokratie». Mosche Kantor investiert viele Millionen in den EJC und formierte abnickende Funktionäre um sich, wie etwa einehemaliger Präsident des Dachverbands der Juden in Belgien gegenüber tachles erklärt. Er schildert, wie das System Kantor funktioniert hat und den Verband in eine Art Blindheit gegenüber dem russischen Despotismus führte. Dies zeigt sich in diesen Tagen, wie ein hoher Funktionär aus der russischen jüdischen Gemeinde im Gespräch mit tachles zur Situation der Juden in Russland schildert. «Jeder, der auswandern kann, soll auswandern. Das russische Regime wird stärker und härter. Es kann sein, dass bald eine Art Sowjetdiktatur mit totaler Isolation, Abkapselung und Überwachung Wirklichkeit wird.»
Führung im Exil
Längst sei die Führung der russischen jüdischen Gemeinden im Ausland, so der jüdische Repräsentant. Seinen Namen möchte er wie die anderen Gesprächspartner nicht in der Zeitung sehen. «Zu gefährlich. Wir werden übewacht.» Die Kommunikation führt tachles über gesicherte Linien. Rund 600 000 Juden leben in Russland. Davon zählen rund 150 000 zu jüdischen Gemeinschaften nach halachischer Definition, die restlichen könnten eine «Rückkehr nach Israel» geltend machen. In der Ukraine sind es 50 000 gegenüber rund 200 000. «Die russische jüdische Gemeinde ist unter enormem Druck und zerrissen in einem Streit zwischen Chabad und den angestammten Gemeinden», meint der Funktionär. Dieser Disput hat 2005 unter anderem zur Ausweisung von Moskaus Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt aus Russland geführt. Die Chabad-Führung von Russland hat sich bis jetzt nicht von Putin distanziert. Ganz im Gegenteil.
Europa verliert zwei jüdische Gemeinden
Indessen müssen sich nun die jüdischen Gemeinden in Europa und Israel auf eine Massenauswanderung von Jüdinnen und Juden aus Russland vorbereiten. «Die jüdischen Gemeinden in der Ukraine und Russland sind dabei, vollends zerstört zu werden» berichtet ein anderer Vertreter der jüdischen Gemeinde aus St. Petersburg und befürchtet Zustände wie im ehemaligen Rumänien und Diktator Nicolae Ceaușescu. Der damalige Oberrabbiner Moses Rosen hat in einem riskanten Balanceakt mit der Securitate-Diktatur rumänische Juden beschützt und zugleich die Alija ermöglicht.
Auswanderung über Dubai
Zurück in der Gegenwart: Rechtzeitig vor Pessach haben sich schon Hunderte von jüdischen Russinnen und Russen über Wien, Dubai und Istanbul ins Ausland begeben. Viele denken über Auswanderung nach. Im Gegensatz zu den ukrainischen Flüchtlingen werden im Moment Europas jüdische Gemeinden die jüdischen Russen nicht so einfach aufnehmen können, da sie keinen Schutzstatus geniessen. Das sieht im Moment auf Anfrage auch die Leiterin des Verbands der Jüdischen Fürsorgen Gabriele Rosenstein so. Sie ist sich allerdings bewusst, dass diese Herausforderung durchaus auf die jüdischen Gemeinden in Europa zukommen könnte. «Zurzeit gibt es in Russland kein ‹Gesetze›», sagt ein Moskauer Jude gegenüber tachles. «In dieser Situation der Willkür müssen wir Lösungen finden.» In Warschau kümmert sich Rabbiner Michael Schudrich für die Europäische Rabbinerkonferenz um Auswanderungswillige russische Juden und jüdische Flüchtlinge aus der Ukraine. Auch Ariel Muzicant, der neue Interimspräsident des EJC, gibt sich besorgt. «Ich glaube, dass wir schwierige Zeiten vor uns haben.
Wenn Russland Europa etwa den Gashahn abdreht, kann sich das wiederum in Repression gegenüber Juden und Antisemitismus in Europa auswirken.» Klar ist, dass Europas jüdische Gemeinschaft vor einem grösseren demographischen Wandel steht, wenn Hundertausende von Jüdinnen und Juden aus Russland und der Ukraine eine neue Zukunft suchen. Bereits in den 1990er Jahren erlebte das jüdische Europa mit der Einwanderung der sogenannten Kontingentsflüchtlinge eine neue Blüte und Belebung mit den damit verbundenen Herausforderungen. Am Vorabend von Pessach 2022 steht nun der Exodus der russischen Juden kurz bevor und die Pessach-Haggada wird brandaktuell. In Brüssel blüht der Frühling. Die bedrückende Ruhe vor dem möglichen Sturm liegt in der Luft. In den Strassen von Brüssels Moolenbeek spielen die Kinder auf der Strasse, Familien treffen sich auf den Plätzen. Viele Menschen hier haben selbst Migrations- und Fluchtgeschichten hinter sich. Die Gesichter erzählen ihre Geschichten. Geschichten, die sich gerade neu schreiben in anderen Teilen der Welt.
Foto:
Chisinau, Moldawien - In der Zentralsynagoge Agudath Israel in Chișinău erhalten ukrainische jüdische Flüchtlinge Essen und einen Platz zum Ausruhen, bis sie ihre Papiere erhalten und...
© französische Fotografin Laetitia Vançon (clairbyKahn)
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom14. April 2022