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Yves Kugelmann

Paris (Weltexpresso) - Der Krieg ist Normalität geworden. Die Flüchtlinge aus der Ukraine kaum mehr Thema. Zur Diskussion stehen der eigene Wohlstand, Inflation, Rezessionsangst, steigende Energiepreise und die Apokalypsen der Zukunft. In Paris würgen sich an diesem Sommertag die Blechlawinen durch die Nadelöhre und ein Blick auf die Navigationssysteme zeigt den bevorstehenden Verkehrsinfarkt. Wie in einem Ameisennest laufend die Menschen über Mittag mit gestressten Gesichtern durch die lärmigen Strassen.

Es wird gehupt, diskutiert, und wer nicht aufpasst, wird von Rollern angefahren. Die Ich-Gesellschaften demaskieren sich in Metropolen mehrfach. Auf der gegenüberliegenden Seite erhält das Auktionshaus neue Lieferungen, während Polizeieskorten mit Blaulicht und Sirenen einen Polittross in Richtung Elysée fahren. Es ist heiss und der Asphalt strahlt die Hitze zurück. Die Strassencafés sind voll. Es wird diskutiert um Tische und Platzierungen.

Die Pandemie ist vergessen, doch die Covid-Zahlen steigen rasant. Am Pressestand um die Ecke die Schlagzeilen. Frankreichs Innenpolitik steht vor größten Herausforderungen und muss sich erstmals seit Jahrzehnten mit der eigentlichen Demokratie und somit einem Koalitionssystem auseinandersetzen. Die internationale Politik ist mehrfachen Stresstests zwischen Wirtschaftskrisen, Gesellschaftsherausforderungen, Klimanot, Migration, Flüchtlingen, Zeiten- und Energiewende ausgesetzt. Nachhaltigkeit war mal. Jetzt wird aus der Hüfte geschossen, über Nacht vieles über Bord geworfen, was Jahrzehnte gepredigt und teuer finanziert wurde: Atomausstieg, Handelserweiterungen, gesellschaftspolitische Programme.

Das Pariser Chaos wird in Lärm und Konsum ertränkt. Ein alter Jude sitzt seelenruhig im Café an der Ecke und liest schon den ganzen Vormittag Zeitungen. Aus der Ruhe bringen lässt er sich nicht. Es ist dieses groteske Bild an der Ecke Avenue Martignon mit Blick auf die Gartenanlagen der Champs Elysées.Wie aus einer anderen Zeit: der Mann, der in aller Ruhe Zeitungen liest, reflektiert, notiert und liest. Wer ist er wohl? Was ist seine Geschichte und welches sind seine Gedanken?

Was hätte wohl Joseph Roth notiert, was Manès Sperber gedacht oder Hannah Arend analysiert. Was hätten die alle miteinander besprochen, welche Perspektiven erörtert und Konklusionen formuliert? Oder eben so, wie Joseph Roth in seinem «Radetzkymarsch» 1932 festhält: «So war es damals! Alles, was wuchs, brauchte viel Zeit zum Wachsen; und alles, was unterging, brauchte lange Zeit, um vergessen zu werden. Aber alles, was einmal vorhanden gewesen war, hatte seine Spuren hinterlassen, und man lebte dazumal von den Erinnerungen, wie man heutzutage lebt von der Fähigkeit, schnell und nachdrücklich zu vergessen.»

Die Chroniken werden irgendwo niedergeschrieben. Oder eben nicht. Denn Hektik, Überforderung und Ohnmacht ertränken jede Reflexion und Erkenntnis, das Gespräch und den Austausch, die Analyse und Überlegungen vor dem nächsten Schritt in einer Art überforderter Wirklichkeit. Da passt die Meldung, dass der Eifelturm nun die nächsten Jahre einen goldbraunen Anstrich erhält. Mit 60 Tonnen Farbe werden Rost und Risse übermalt, damit das Wahrzeichen Frankreichs zu den Olympischen Spielen strahlt. Doch die glänzende Fassade wird die innere Substanz nicht stärken. Die Gesellschaften des Jahres 2022 wissen das – und jetzt?

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Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 8. Juli 2022                                                                                                                                                                                                                                                                                                                     
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG