Bildschirmfoto 2022 09 25 um 22.38.10DAS JÜDISCHE LOGBUCH Ende September

Yves Kugelmann

Wien (Weltexpresso) - Gibt es noch Honig aus der Ukraine? Sergej wollte seine Bienen durch den Krieg in der Ostukraine bringen. Der Bienenzüchter aus dem Donbass kümmert sich inmitten des Gefechts zwischen prorussischen Separatisten und ukrainischen Kämpfern um seine Bienen. Mit dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine am 24. Februar und inzwischen mit der russischen Mobilmachung ist der Krieg und das Chaos nach Westen gerückt. 2019 publizierte der ukrainische Autor Andrej Kurkow «Graue Bienen» und nahm den grossen Krieg vorweg. Die Ordnung der Bienen sollte keinen Bestand haben. Die Ordnung Europas und der Welt gerät ins Wanken. Kriegsverbrechen, Mord und Totschlag haben den Krieg längst überlagert. 

Sechs Monate sind ins Land gezogen. Die jüdische Gemeinde von Wien hat inzwischen 1200 jüdische Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. 400 sind inzwischen Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde Wien geworden. Gegen 10 000 hat die Gemeinde in den letzten Monaten betreut. Viele sind weiter nach Westen gezogen oder in die Heimat zurückgekehrt. Hinzu kommen die jüdischen Migranten aus Russland. Mit Ausbruch des Krieges hat eine riesige Auswanderungswelle russischer Juden begonnen. 30 000 sind in den letzten Monaten nach Israel ausgewandert im Vergleich zu 15 000 Juden aus der Ukraine. Und es werden noch mehr werden. Experten erwarten, dass Russlands jüdische Gemeinschaft das Land weitgehend verlassen wird.

Wien ist längst der Warte- und Fluchtraum des Krieges geworden. Die Stadt pulsiert am Tag der russischen Mobilmachung. Der Schmelzpunkt von einst, als in der k. u. k. Monarchie Wien im Zuge der Emanzipation bis zur Schoah zur Hochburg der jüdischen Migranten avancierte, erlebt wieder diesen Aufbruch in eine neue Zukunft. Damals kamen sie aus Galizien, Mähren, Ungarn – von überall. Vor 30 Jahren aus Kasachstan, Usbekistan, Russland. Und nun aus der Ukraine und Russland. Wien vereint aschkenasische und sephardische Juden, auch wenn immer wieder beklagt wird, dass die Gemeinschaften mehr neben- statt miteinander leben.

Die Vorbereitungen in den verschiedenen Synagogen für die bevorstehenden Feiertage und der Betreuung der Flüchtlinge laufen auf Hochtouren. Vom Krieg ist indes nicht viel zu spüren an diesem September-Tag. Wien ist allerdings zu einer anderen Art Bienenhaus geworden. Menschen, die in Wien eine neue Zukunft suchen und planen, finden sich überall. Auf den Strassen, in den Kaffeehäusern wird viel Russisch gesprochen. Die jüdische Gemeinde stellt sich auf weitere Flüchtlinge ein. Ein harter Winter steht im Kriegsgebiet bevor und ebenso in Europa. Inflation, Rezession, Energiekrise – der Nährboden für Rechtspopulismus. Schweden, Italien, Ungarn, vielleicht bald auch wieder Österreich, in dem die jüdischste aller europäischen Städte vorlebt, wie am Kulminationspunkt zwischen Ost und West, am Scharnierpunkt zu den Ländern, die ehemals hinter dem Eisernen Vorhangs lagen, seit Jahrzehnten mit Vielfalt umgegangen wird. Wiens jüdische Gemeinde zählt 8000 Juden, darunter bucharische, grusinische, israelische und Juden als allen Teilen Europas. Die Gemeinde setzt auf massive Vergrösserung durch Zuwanderung. Von 5000 bis 15 000 ist die Rede. Gelingen kann es, wie die letzten Monate zeigen.

Wiens jüdische Gemeinschaft hat vorgemacht, wie innert kurzer Zeit eine neue Infrastruktur etabliert wird. Natürlich gibt es Probleme bei der Integration, die Ungewissheit darüber, wer bleibt und wer geht, macht die Situation nicht leichter. Natürlich kommt bald die Frage, ob die Gemeinde dieses immense Projekt weiterhin allein wird finanzieren können und natürlich machen Krisen Dinge möglich, die in normalen Zeiten kaum bewältigt werden. Doch in diesen Tagen ist in Wien keine Ermüdung, sondern eine Vision festzumachen. Die jüdische Gemeinschaft ist durch die Schoah massiv dezimiert worden. Alleine in Wien machten Jüdinnen und Juden vor dem Holocaust mit 200 000 rund 15 % der Stadtbevölkerung aus. Davon ist man heute weit entfernt, doch ist das Ziel Wachstum klar formuliert, ebenso möchte man die Lehren aus der Einwanderung russischer Jüdinnen und Juden in den 1990er Jahren ziehen. Damals kamen viele Kontingentsflüchtlinge, die mit Judentum nichts zu tun hatten.

Sergej hat sein Bienenvolk durch den Krieg gebracht, irgendwo und irgendwie. Die Bienenvölker brauchen ein gesundes Umfeld – ansonsten ziehen sie davon. Irgendwo finden sie immer eine gute Bleibe – und befruchten die Umgebung. Vielleicht kommt der Honig zu Rosch Haschana bald wieder aus Ukraine. Vielleicht sind Bienenvölker gar nicht so anders als jüdische Gemeinschaften. Sie sind gefährdet, sensibel, sie fliehen bei Gefahr. Sie können überall hin, überall leben, sich adaptieren, integrieren, emanzipieren. Wenn man sie denn lässt. Und sonst ziehen sie weiter.

Foto:
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 23. September 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.