Bildschirmfoto 2022 12 04 um 01.09.02DAS JÜDISCHE LOGBUCH, Anfang November 

Yves Kugelmann

Amsterdam (Weltexpresso) - Der Himmel spiegelt sich an diesem Donnerstagmorgen im Wasser in den Grachten der Stadt. Der israelische Schriftsteller David Grossman macht sich vom Hotel  auf den Weg zurück nach Israel. Vor zwei Tagen hat ihn das niederländische Königshaus in Amsterdam mit einem Preis geehrt. Am Frühstückstisch sitzen jüdische Schweizer Freunde und resümieren Feier und Reden. Rasch wendet sich das Gespräch der Geschichte zu. Wer nach Holland kommt, wird sofort daran erinnert beim Gang durch das jüdische Erbe von Amsterdam.

Die Aufarbeitung von Geschichte stellt alle Länder Europas vor unterschiedliche Herausforderungen. Eine Studie des Instituts für Genozid- und Holocaustforschung NIOD setzte im Frühjahr den Holländern den Spiegel in Bezug auf die Kolonialzeit in Indonesien vor. Die niederländische Regierung und die militärische Führung haben, so der Report, die systematische und weit verbreitete Anwendung von extremer Gewalt durch die niederländischen Streitkräfte im Krieg gegen die Republik Indonesien geduldet. In Holland wird viel aufgearbeitet, auch in Bezug auf den Holocaust. Regelmässig wird Raubkunst aus öffentlichen Museen an ehemalige Besitzerfamilien zurückerstattet. Anders als in der Schweiz ist die Akademie generell offensiv aktiv, eine Expertenkommission in Sachen Provenienz eingesetzt. Vieles ist noch zu tun, gerade auch wenn es darum geht, dass Bewusstsein innerhalb der Bevölkerung für die Haltung Hollands in Kriegen besser zu reflektieren, den Verrat an Juden im Holocaust und anderes als Teil der Geschichte zu akzeptieren. Im Rijksmuseum säumen Triggerwarnungen ausgestellte Gemälde. Bei den Eidgenossen ist man noch nicht so weit, obwohl die Fakten erdrückend sind. Die Schweiz war das Mekka für Raubkunsthandel, die Depots der Museen sind voll davon und mit dem Kunsthaus Zürich steht geradezu anachronistisch der in Stein gegossene Bunker mit Bührle-Sammlung, der sich gegen den Gang der Welt nach aussen abschottet und nach innen wurstelt.

Die neue Direktorin des Kunsthaus Zürich, Ann Demeester, zeigt sich gegenüber Gesprächsparntern offen für Lösungen. Sie will einen Beirat einsetzen, möchte Hand für Lösungen bieten und allenfalls auch Bilder der Bührle-Sammlung abhängen. Wenn es letztlich um Rückgaben oder Entschädigung geht, wird der Spielraum schon kleiner. Die Bührle-Bilder sind Leihgaben. Der runde Tisch untersucht im Moment die Provenienzforschung der Bührle-Stiftung und macht einen unnötigen Umweg: denn eigentlich müsste die Bührle-Sammlung mit ganzem Zugang zu Archiven neu untersucht werden, statt die Untersuchung zu untersuchen. Recherchen von tachles haben ergeben, dass auch in den ausgestellten Kunstwerken Raubkunst in den Räumen der Bührle-Sammlung im Kunsthaus hängt. Triggerwarnungen wären bei vielen Bildern angezeigt. Da geht es längst nicht nur um das in der Diskussion stehende Monet-Bild die «Mohnblume» der Familie Emden. Dieses allerdings wird ein erstes Exempel statuieren in den kommenden Wochen, wenn die Erben neue Dokumente in die Diskussion einbringen.Weitere Recherchen von tachles haben ergeben, dass in den Kellern des Kunsthauses nicht wenig Werke liegen, die in einigen Jahren restituiert oder zurückgegeben werden müssen – das überrascht nicht.

Darum wird sich der im Sommer eingesetzte runde Tisch nicht kümmern und dies zeigt schon, wie Schweizer und im Moment Zürcher Reaktionsmuster funktionieren. Dort, wo der Druck zu gross wird, versucht man halbherzig zu reagieren und deshalb gibt es bis heute nur einen runden Tisch zu Bührle, der sich um den Rest der Sammlung nicht kümmert und noch weniger um andere Museen. Die längst überfällige nationale Expertenkommission liegt noch in weiter Ferne, obwohl aktuelle Ausstellungen zur Causa Gurlitt in Bern, Causa Glaser in Basel oder «entarteter» Kunst auch in Basel zeigen, wie überfällig das Thema ist und wie gross die Fragestellungen werden. In Zürich sind gerade mal 500 000 Franken für Provenienzforschung vorgesehen. Falls ernsthafte internationale Expertinnen und Experten jemals ein Mandat des runden Tischs akzeptieren, wird das Geld nicht ausreichen und die Frage gestellt werden müssen, weshalb die öffentliche Hand Geld für die Aufarbeitung der Provenienz einer Privatsammlung aufwenden muss. Eine Sammlung, die in ihrer Art weltweit einzigartig ist: Ein Nazi-Kollaborateur kauft parallel zur Judenverfolgung mit Nazigeld über Händler Kunst weitgehend von jüdischen Opfern. Gegenüber tachles nennt ein Experte die Bührle- in der Konsequenz eine jüdische Sammlung. Nicht zu Unrecht. Je nach Zählung werden rund 40 bis 80 Bildern solchen zugeordnet; tachles kennt teilweise Bilder, die klar als Raubkunst zugeordnet werden können, und man ist erstaunt, dass die Bührle-Stiftung und -Familie immer noch am gutgläubigen Erwerb der Gemälde festhält, dass ein Haus solche Sammlungen überhaupt aufhängt bevor alles geklärt ist.

Der runde Tisch wird bald eine Expertenkommission vorschlagen, die in der Zukunft Resultate belegen wird, die eigentlich schon längst hätten vorweggenommen werden können. Er hat zugleich die Bührle-Debatte in die Zukunft verschoben, Akteure neutralisiert oder problematisiert. Zwar sitzen jüdische Vertreter am Tisch, aber keine Opfervertreter. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund vertritt am Tisch Schweizer Juden, aber nicht die Opferfamilien - die allesamt im Ausland leben. Zwar sitzt die Bührle-Stiftung am Tisch, nicht aber die Bührle-Familie – über deren private Sammlung in naher Zukunft noch gesprochen werden muss und die letztlich in der Verantwortung stehen wird, wenn es um Entschädigungen geht. Auch wenn sie dies noch ablehnt. Zwar sitzen Vertreter der Provenienzforschung am Tisch, doch die Bührle-Sammlung fordert die Schweiz heraus: Eigentümerin der Gemälde ist eine Stiftung, die Familie ist im Moment aussen vor, wenn es um die Stiftungssammlung geht. Das Kunsthaus als Besitzerin kann allenfalls abhängen, aber nicht entschädigen oder zurückgeben. Die Forschung wird nicht an alle nötigen Archive kommen - ein Teil existiert nicht mehr.

Wird der runde Tisch ein unabhängiges Expertenteam zulassen, dass über Jahre zu deren Bedingungen und internationalen Standards unabhängig forschen wird? Wird Zürich die Entscheidungen von Experten umsetzen? Ein Auftritt von Laurie A. Stein letzter Woche in Basel wird die Provenienzforscher nicht kalt gelassen haben. Sie hat die Provenienz der Bührle-Sammlung über Jahre verantworte. An der Jahrestagung des deutschen Arbeitskreises für Provenienzforschung im Kunstmuseum Basel liess sie letzte Woche eine Tirade los und sprach gemäss Teilnehmern von einer Verleumdungskampagne gegen ihre Forschung, die sie mit dem ehemaligen Direktor der Sammlung Lukas Gloor verantwortet hat. Ein Jahr nach der desaströsen Pressekonferenz von Kunsthaus und Bührle-Stiftung zeigt Stein auf, dass die Verantwortlichen noch nicht viel gelernt haben, wenn sie öffentlich sagt: «Bei dieser Diffamierungskampagne geht es nicht um mich, es geht nicht um Laurie Stein – es geht um das gesamte Konzept der Provenienzforschung und ihre Rolle in der Restitutionspolitik.» Und schliesslich: «Machen Sie keinen Fehler: Einer oder mehrere von Ihnen in diesem Raum werden die nächsten sein.»

Natürlich ist das Steins Rundumschlag frontaler Unsinn, der allerdings bis vor einem Jahr auch der Pressekonferenz von der Stadt Zürich, dem Kunsthaus und der Bührle-Stiftung noch als «state of the art» verteidigt wurde. Da ist die jüdische Herkunft Steins für damalige Auftraggeber oder deren Alliierten wohl gewichtiger gewesen  als die Expertise in Provenienz. Eine Provenienz, die auf Zugang zu Archiven und historischen Fakten verzichtet hat, eine Provenienzforschung, die keine war, und somit von einem runden Tisch nicht überprüft, sondern neu gemacht werden muss. Eine Provenienz, die zu einem Dokumentationsraum voller Fehler und falscher Eiordnungen geführt hat und den Begriff «jüdisch» zu ehemaligen Inhabern der Bilder lange nicht in den Texten führte. Natürlich werden bald Gemälde aus der Bührle-Stiftung aufgrund der erdrückenden Faktenzur Disposition gestellt werden, abgehängt und eigentlich auch restituiert werden müssen. Selbst dort, wo die Rechtssprechung zu kurz greift. Da reicht ein neuer Dokumentationsraum bei weitem nicht aus, auch kein Beirat mit wohlklingenden Namen. Die Schweizer und in diesem Falle die sehr zwinglianische Verzögerungs- und Umwegstaktik reduziert die Problematik nicht, sondern hält eine unnötige Agitation länger am leben. Das bestätigen auch die unzähligen Gespräche der letzten Wochen von tachles mit internationalen Experten. Niemand versteht, wie es in Zürich so weit kommen konnte und dass bis heute verzögert, verkompliziert, negiert wird.

In Holland ist vor einigen Monaten nach einem jahrelangen Rechtsstreit in Amsterdam das Gemälde «Bild mit Häusern» von Wassily Kandinsky an die Erben des ursprünglichen jüdischen Besitzers zurückgegeben worden. Die Ansprüche der Familie waren zunächst abgelehnt worden. Grundlage für die gerichtliche Entscheidung waren jedoch umstrittene Richtlinien der staatlichen Rückerstattungskommission. Die Richtlinien wurden nach einer umfassenden Untersuchung korrigiert. Daraufhin hatte Amsterdam im vergangenen Jahr entschieden, dass das Gemälde an die Erben zurückgegeben werden sollte, um das Unrecht ungeschehen zu machen. Ein Vertreter der Stadtregierung sprach von einer «moralischen Pflicht zum Handeln». Auch Zürichs Stadtpräsidentin Corine Mauch, die anfänglich und letztlich das ganze Bührle-Desaster zu verantworten hat, frisst stetig und langsam Kreide. Auch sie wird natürlich bald die «moralische Pflicht zum Handeln» anführen, wenn denn die tachles teilweise bereits vorliegenden Belege zur neuen Beurteilung von Bührle-Gemälden oder solchen in den Archiven des Kunsthauses führen wird.

Man fragt sich, weshalb sie das nicht am ersten Tag nach Bewilligung des Kunsthaus-Projekts getan hat. Auch wenn das Zürcher Establishment rund um Walter Kielholz, den ehemaligen Präsidenten der Kunsthausgesellschaft, in weiten Teilen die Bührle-Debatte als mediale statt reale verrotte, wird die Zeit den Kritikern Recht geben – Kritiker, ohne die diese Debatte heute nicht geführt würde. Der Nachfolger von Kielholz, Philipp Hildebrand, wird mit der neuen Direktorin Ann Demeester bald die Fragen faktisch beantworten müssen, wenn die ersten Resultate vorliegen: Wer bezahlt? Wer restituiert? Wer agiert? Die Zürcher Eine-Hand-wäscht-die-andere-Mentalität ist vom Tisch und die Realitäten müssen verhandelt werden. – In Amsterdam sind nun 30 Millionen Euro für die Errichtung des Holocaust-Museums zusammengekommen. Viele Millionen wurden aufgewendet für Restitution und Entschädigung. Alles zu spät, alles zu Recht. Als letzte Bastion des Unrechts in Europa wird die Schweiz, und speziell Zürich, irgendwann mal folgen. Daher ist dieser Text verfrüht und jeglicher Ärger darüber in der Zukunft leicht zu entkräften und zu belegen, wer Zürich all dies eingebrockt hat. Good night Zurich.

Foto:
Der Erweiterungsbau des Kusthauses Zürich - Monolith wider die Zukunft.
©tachles

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 2. Dezember 2022
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.