DAS JÜDISCHE LOGBUCH Mitte März
Yves Kugelmann
London (Weltexpresso) - LBC ist eine Institution unter Englands Radio. Moderator Andrew Miles ist eine Art Radio-Legende. In seinem ausführlichen Gespräch mit Londons Bürgermeister Sadiq Khan sind dessen konsequente Absagen an Antisemitismus klar und deutlich. Es geht um Antisemitismus und Feindlichkeit gegenüber anderen Minderheiten. In England sind in diesen Monaten die politischen Spannungen im Nachgang zu den Hamas-Massakern, den Geiselnahmen und dem darauffolgenden Gaza-Krieg besonders heftig.
Doch der Bürgermeister war auch einer der ersten, die sich gleich nach den Massakern mit Londons Rabbinern getroffen haben. Der pakistanische Taxi-Fahrer hört interessiert zu. «He is a good mayor», sagt er und verabschiedet sich mit dem «Peace»-Zeichen. Der Nahostkrieg ist überall. Er dringt bis weit in die Gemeinschaften weltweit vor, bis tief in die jüdischen und muslimischen Gemeinschaften – mit unabsehbaren Folgen. Rund um die London Book Fair beschäftigt das Thema Menschen und Buchprogramme. Die parallellaufende Jewish Book Week wartet mit einem spannenden Programm auf und beweist einmal mehr, dass die jüdische Literatur in den letzten Jahren mehr und mehr Gewicht bekommt. Zwei Tage davor irgendwo in Europa sitzt beim Abendessen der Sohn von Holocaustüberlebenden gegenüber.
Ein brillanter, bescheidener, unbeirrbar analytischer Denker, tief verbunden mit der jüdischen Tradition, die er noch im Cheder tagtäglich gelernt und der sich längst vom praktizierten Judentum verabschiedet hat. Ideologien liegen ihm fern, der unverstellte Blick auf die Situationen hingegen nicht. Seine Lösung für Nahost präsentiert sich einleuchtend und zugleich nicht umsetzbar. Er hätte sich am 8. Oktober gewünscht, dass Israel die über zwei Millionen Palästinenser in die Westbank bringt, Siedlungen räumt und den Palästinenserstaat dort etabliert. Im Austausch erhalten die Israeli Gaza und machen ein zweites Tel Aviv daraus. Kein Krieg, keine Fokussierung auf nicht realisierbare Szenarien einer rechten Regierung. Dass «Jehuda und Samaria» allerdings den Israeli wichtiger sind als Gaza weiss er besser als jene, die dagegenhalten. «Juden sind Nomaden», sie bleiben überall Fremde, und für die einzige Heimat der Juden müsse eine Lösung geschaffen werden, die Sicherheit für alle Menschen in der Region garantiert.
Die Realität allerdings hat die Visionen längst überholt, und in Gaza wird die Situation desaströser. Da bleibt der obligate Hinweis auf die Kausalitäten, die Massaker der Hamas und die Geisen in deren Gewalt ebenso wichtig wie ein ohnmächtiger Versuch, eine unhaltbare Situation zu relativieren oder zu negieren. Politik funktioniert in Zeitfenstern, diese öffnen und schliessen sich. Es gibt Zeiten, da wollen Menschen schweigen. Doch irgendwann wird das Schweigen zur Mitschuld. Die jüdische Gemeinschaft weltweit wird Teil eines israelischen Regimes, das eine brandgefährliche Agenda und diese schon lange vor dem 7. Oktober offenlegte. Die Judaisierung des liberalen Israel ist wichtiger geworden als die Befreiung der Geiseln. Während in Städten weltweit tagtäglich jüdische Menschen mit enormem Aufwand auf das Schicksal der Geislen hinweisen,
«Nie wieder ist jetzt», «Yellow Umbrella», «BringthemHomeNow» auf beeindruckende Weise unbeirrt zelebrieren, hat Israels Regierung «höhere Ziele», wie Regierungsmitglieder regelmässig verkünden. Netanyahu, Smothrich, Ben Gvir stehen für den grössten Skandal in der israelischen Geschichte und die Dehumanisierung der jüdischen Idee. Wer das allerdings benennt, die vielen Menschen, die darüber sprechen wollen, die auf Israels Regierung einwirken möchten, wurde rasch mit einer reaktionären Kraft konfrontiert, die diese wichtige Fragestellung nicht verhandelt haben will. Ein a-jüdisches Diktum ohnehin, denn Judentum, Zionismus, letztlich Israel waren nie etwas anderes als der gelebte innere und offene Diskurs zur besseren Idee. Die Beispiele können wir uns hier ersparen – oder wie sagte Alfred Kerr so schön: «Als ich um zehn Uhr auf die Uhr schaute, war es erst halb.»
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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 15. März 2024
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.