Bildschirmfoto 2024 06 02 um 07.08.53DAS JÜDISCHE LOGBUCH  Ende Mai 

Yves Kugelmann
 
Basel (Weltexpresso) - Je länger der Krieg in Gaza andauert, desto mehr wird er die jüdische Gemeinschaft verändern, entzweien, verhärten – statt einen. Das zeichnete sich schon nach dem 7. Oktober ab, als der Umgang mit der Geiselfrage in Israel zum Politikum, für weite Teile der jüdischen Gemeinschaft weltweit zu einer Art Raison d’Être und für die Familien zum existenziellen Kampf wurde.
Der Terror der Hamas, die teils antisemitischen oder antiisraelischen Proteste auf Straßen weltweit oder Universitäts-Campus haben nicht nur einen Keil zwischen der jüdischen oder Gemeinschaften generell getrieben – vieles, was zum Teil kaum hinterfragt über Jahrzehnte gewachsen ist an Positionen, Strukturen oder Programmen, steht nach den Entwicklungen seit dem 7. Oktober in einem anderen Licht da und grundlegende Fragen und politische Arbeit werden zu diskutieren sein. Diskussionen, die eigentlich seit vielen Jahren hätten geführt werden sollen gerade im jüdischen Verbands- und Gemeindewesen. Der abtretende Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) Ralph Lewin hat am Sonntag 45 Minuten Austausch der Delegierten eingeplant.

Eine gute Idee, allerdings mit wenig Substanz: denn Grundlagen für die Diskussion fehlen. Etwa die Evaluation der SIG-Projekte, Kommunikation der einst vorgelegten Strategie. Wer nach dem 7. Oktober gedacht hat, jetzt würden sich alle jüdischen Gemeinden der Schweiz in einem Verband, vielleicht sogar alle jüdischen Gemeinschaften zusammenschliessen, hat rasch Klarheit darüber erhalten, dass diese Gemeinschaften nur partiell zusammenfanden, oft auseinanderdrifteten und überrannt wurden von neuen Initiativen oder Organisationen. In Kommunikationsabteilungen werden Dinge oft schöngeredet oder nur halbe Wahrheiten präsentiert.

Ein problematischer Aushang eines Schlittenverleihs in Davos wird im Januar inmitten des Gaza-Kriegs zur Weltschlagzeile, zu den Uni-Protesten und Ängsten jüdischer Studierender in der Schweiz seit April wird wochenlang geschwiegen, externe Evaluationen von Kooperationen, Antisemitismusberichten, der Verwaltung und so vielem anderen bleiben auf der Strecke – das Jahr 2024 ist falscher Zeitpunkt für die Diskussion, aber vielleicht der richtige Startpunkt für die Vertiefung und Aufarbeitung dessen, was angesichts der Frequenz der eskalierenden Ereignisse unter den Tisch fällt. In den 120 Jahren seines Bestehens hat sich das Umfeld des Gemeindebunds, haben sich die jüdischen Gemeinschaften weltweit gewandelt. Das Konzept des SIG wurde 1904 aus einer Not geboren und sollte 2024 nicht zur Tugend gemacht, sondern der Zukunft untergeordnet werden.

Alle wissen, dass die Herausforderungen mit dem 7. Oktober potenziert wurden und damit Perspektiven auf Basis von greifbaren Daten verhandelt werden könnten, die die nächste Generation und nicht nur die kommenden Jahresberichte ins Auge fassen. Wie brisant die Notwendigkeit für eine offene Diskussion ist, zeigen auch die letzten Tage vor der DV rund um die Frage des Antrags der Jüdischen Gemeinde Bern um Kontrolle des Verbands des Schweizerischen Jüdischen Fürsorgen. In letzter Minute versuchen SIG und ICZ die Gemeinde in Bern zum Rückzug zu bewegen und jemand VSJF-Vorstand zu platzieren (vgl. Seite 14). Demokratie und Transparenz geht anders.

Die geplante Resolution der SIG-Delegation der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich wird ein kleiner Mosaikstein und die Frage im Raum stehen bleiben: Kann der Gemeindebund die nächsten Jahre antizipieren oder wird er laufend von Entwicklungen überholt werden? Mitten in der grössten Krise der Schweizer Judenheit seit 1945 wurde der damalige SIG-Präsident Rolf Bloch im Kontext der Debatte um die «nachrichtenlosen Vermögen» zum Schweizer des Jahres gewählt und für das exzellente Krisenmanagement nach innen und aussen gewürdigt. Das war keine organisierte Eine-Hand-wäscht-die-andere-Preisverleihung sondern ein Voting innerhalb der Schweizer Bevölkerung. Er hatte geschafft, dass die jüdische Gemeinschaft mit sehr klaren politischen Forderungen, mit massiver Kritik an Behörden und Öffentlichkeit nicht als Antisemitismus-Polizei oder Apeaser, sondern als glaubwürdiger Vermittler, Diplomat und lösungsorientierter Konfliktmanager auftrat, der sich auf das konzentriert hat, was er als Verbandspräsident und Persönlichkeit leisten und tun sollte: ein politisches Umfeld für Gerechtigkeit, Emanzipation und Recht faktisch und nicht nur in Worten zu schaffen. Der SIG sollte sich unbedingt wieder an sich selbst und nicht an anderen messen und die offene Debatte fördern, auch ausserhalb der lobenswerten 45 Minuten von Sonntag. Dann wird das Kür und nicht Pflicht, also Selbstverständnis und nicht Hohlglanz.

Foto:
©www.israel-trail.com

 Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 31. Mai 2024  
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.