rbb 24Das jüdische Logbuch Mitte Dezember

Yves Kugelmann

Basel, (Weltexpresso) - Wer spricht wie über was? In Syrien haben die Menschen den Diktator Baschar al-Assad gestürzt – einen Massenmörder, dessen totalitäres Regime vor den Augen der Weltöffentlichkeit Menschen abschlachtete, Chemiewaffen gegen Zivilisten einsetzte, Menschen folterte und spurlos verschwinden ließ. Millionen flohen vor dieser Schreckensherrschaft, vor allem in die Türkei, den Libanon und nach Jordanien. Hunderttausende suchten über die Balkanroute Zuflucht in Europa.


Vladimir Vertlib, der österreichische Schriftsteller mit russisch-jüdischen Wurzeln, hat sich in seinen Texten über Jahre hinweg mit Flucht und Migration auseinandergesetzt. Seine unaufgeregten, eindringlichen und intensiven Texte referenzieren immer wieder Werke anderer Autoren und vermitteln aus der Perspektive Geflüchteter, was im politischen Diskurs oft unbeachtet bleibt: die Realität der Flucht, das Ankommen an fremden Orten in unbekannten Gesellschaften, den Versuch der Integration und schliesslich die Akzeptanz einer neuen Heimat – trotz der Sehnsucht nach der alten.

Dies ist ein zentrales Thema des 20. Jahrhunderts bis heute, insbesondere in der jüdischen Geschichte, und betrifft viele andere Vertriebene, Verfolgte und vor der Vernichtung Gerettete. In seinem Essay «Die Nacht der Ankunft» beschreibt Vertlib seine Erfahrungen als freiwilliger Helfer während der Flüchtlingskrise 2015 in Salzburg. Er schildert eindrucksvoll die Herausforderungen und Emotionen der Geflüchteten sowie seine eigenen Reflexionen über seine Vergangenheit als Migrant – eines von Tausenden literarischen Zeugnissen zu Flucht und Migration.

Joseph Roth beschreibt in seinem Buch «Juden auf Wanderschaft» die jüdische Erfahrung so: «Das Leben der Ostjuden ist nichts anderes als eine ununterbrochene Auswanderung, ein dauernder Abschied, eine ewige Flucht.» Ein Abschied ohne Ankunft.

Die Globalisierung ist zu einem elitären, unumkehrbaren ökonomischen Projekt verkommen, das jene Menschen benötigt, die in Gesellschaften häufig abgelehnt werden, obwohl sie diese tagtäglich aufrechterhalten. Schuld daran ist nicht nur der Populismus, sondern auch eine jahrtausendealte Kultur, die das Fremde stigmatisiert. Die jüdische Erfahrung steht ebenso sinnbildlich für diese Dynamik wie die Art, in der über Juden im Laufe der Jahrhunderte gesprochen wurde. Migration bedeutet immer Entwurzelung, unabhängig von den Gründen. Das Leben im Exil ist geprägt von Fremdheit, und das Ankommen ein ebenso schwieriger Prozess wie das Zurückkehren.

Adil, ein syrischer Pfleger, lebt seit acht Jahren in Europa. Er hat Deutsch gelernt und arbeitet in einem Pflegeheim. Den Sturz des Diktators Baschar al-Assad begrüßt er, doch er feiert nicht auf den Straßen. Zu groß sind seine Sorgen um die Familie und das, was die Zukunft bringen mag. Zu tief sitzt seine eigene Fluchterfahrung. Er träumt davon, eines Tages nach Syrien zurückzukehren und an der Etablierung einer demokratischen Gesellschaft mitzuwirken. Von den reflexhaften Forderungen europäischer Politiker nach Rückführungen bekommt er kaum etwas mit. Es sind oft gerade die Verfechter der Globalisierung, die den Multilateralismus zunehmend ablehnen, Flüchtlings-, Migrations- und Asylpolitik zu parteipolitischen Themen degradieren und dabei ignorieren, dass Verfassungen Errungenschaften aller politischen Strömungen sind – Errungenschaften, die täglich neu im Gesell-schaftsvertrag verhandelt werden müssen.

Mangelnde Empathie, Zynismus, Populismus und realitätsferne Forderungen prägen den Alltag vieler Politiker, auch heute. Wie über Flüchtende, Migranten und Asylsuchende gesprochen wird, zeigt vor allem, dass viele in Europa das kulturelle Erbe nicht verstanden haben, auf das sie sich immer wieder berufen. Dazu gehört auch Hannah Arendts Essay «We Refugees» von 1943: «Wir haben unser Zuhause verloren, das heißt, die Vertrautheit des täglichen Lebens. Wir haben unseren Beruf verloren, das heißt, die Zuversicht, in dieser Welt etwas Nützliches zu tun. Wir haben unsere Sprache verloren, das heißt, die Natürlichkeit von Reaktionen, die Einfachheit von Gesten, den ungezwungenen Ausdruck von Gefühlen.»

Wer spricht wie über was? Wer geht in Verantwortung mit Sprache und Inhalten um abseits von medialen oder digitalen Effekten, abseits von Populismus, abseits von ideologischem Hickhack? Flüchtlinge sind die Heldinnen und Helden jeder Gesellschaft. Wer ohne Fluchterfahrung daher fabuliert, entlarvt sich allzu oft als despektierlicher Idiot des Moments, dem man diese Erfahrung zur Raison wünscht.

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Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 13. Dezember 2024 
Yves Kugelmann ist Chefredaktor der JM Jüdischen Medien AG.