Einführung in die neue 'Baseler' Nietzsche-Edition durch Ludger Lütkehaus und Marc Hoffman, 11.Nov. 2014

 

Heinz Markert

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Die sorgsam herausgegebene 'Baseler' Ausgabe „letzter Hand“ – in Arbeit – soll auch dem Missbrauch von Nietzsches Nachlass Einhalt gebieten, war aber an der Zeit.

 

War Schopenhauer der „Denker gegen den Strom“ (Arthur Hübscher), so war und bleibt Nietzsche der Denker gegen die Welteinrichtung. Der Einrichtung der Welt könnte durch philosophische Anstrengung, mit einer Aphoristik höchster Güte, getrotzt werden. So wäre die Welt eventuell zu kippen, um sie in einen befreiten Zustand zu überführen.

 

Adornos Diktum, dass in der befreiten Welt – im richtigen Leben – sich die Dinge von den heutigen gar nicht so sehr unterschieden, sondern nur um ein Etwas von der Stelle gerückt seien, hebt mit einem ähnlichen Denkansatz an, formuliert mit der Redensart vom kleinen Unterschied.

 

Die neue Edition ist nicht unwesentlich mitverursacht durch die Missbräuche und Verbiegungen der Schriften Nietzsches, die mit dem üblen Wirken der Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche - noch zu Niezsches Lebzeit - verbunden sind. Sie schreckte vor Verfälschungen und gar Fälschungen nicht zurück, um sein Werk in eine ihr liebsame, im übrigen gänzlich fragwürdige Richtung umzulenken, umzudeuten. Insbesondere knüpft sich die Debatte an den äußerst zweifelhaften Umgang mit dem „Entwurf des Plans zu: Der Wille zur Macht“.

 

Die neue, schon auch am Abend der Vorstellung sichtbar präsentierte Edition setzt sich
von jener der viel belobten, gerühmten Ausgabe von Colli und Montinari ab, die allerdings die ausstehende editorische Strenge noch nicht aufweist, denn sie „bezieht als kritische Ausgabe notwendigerweise verschiedene Ausgaben und Textschichten ein“. (Text der Einladung)

 

Gewollt ist also nunmehr eine Ausgabe nach einem strengen Werkbegriff, denn es „fehlt nach wie vor eine Ausgabe der abgeschlossenen Werke in den von Nietzsche autorisierten Fassungen letzter Hand“. (ebenda) Das Werk soll als ein Gesichertes greifbar werden. Einem Steinbruchumgang mit Nietzsche, ohnehin im Kreis von philosophisch Dilettierenden gerne vorgenommen, soll die Grundlage nach Möglichkeit entzogen werden.

 

Die Herausgeber Ludger Lütkehaus und David Marc Hoffmann führten überzeugend und auf minutiöse Details eingehend in die Philosophie und Praxis der neuen Edition von gleichsam strenger Methode - die auch Schopenhauer vertrat - ein. Es soll keine Kompromisse mehr geben.

 

 

Vorteil für Nietzsche

 

Nietzsche würde damit sozusagen von seinen falschen Freunden und irrlichternden Anhängern abgrenzbarer, käme unter eine Art Schutzschirm, der ihn vor unzulässiger Vereinnahmung behütet. Die Edition ist als 'Ruheplatz' gedacht. Eine Unterstützung dieser Art fehlte ihm zu Lebzeiten und er hat darob sehr gelitten, wie er auch unter den Anstellungen seiner jederzeit übermotivierten Schwester litt, die mit dem Oberlehrer Dr. Bernhard Förster, „der ein übler politischer Antisemit war und sein Gymnasialamt wegen seiner Agitation niedergelegt hatte“, verheiratet war. ('Nietzsche', rororo- monographie, Reinbek bei Hamburg, 1966).

 

Es gilt als gesichert, dass Nietzsche kein Antisemit war – im Gegenteil vielmehr Philosemit, wenn man das so gestanzt sagen darf – und empört war, dass „Elisabeth begann, den Bruder mit antisemitischen Briefen zu malträtieren“. Nicht Antisemit zu sein, war Nietzsche philosophisch-ästhetische Genugtuung. Des weiteren war die Taktik der Schwester (1846 bis 1935), das komplexe Werk des Bruders nicht nur in Richtung Antisemitismus, sondern auch – aus heutiger Perspektive – in Richtung eines sich organisierenden Nationalsozialismus zu lenken. Denn abgesehen von Antisemitismus spielte auch die Überhöhung von Macht und Machtanspruch durch den – bildlich gesprochen - Starken Mann in das krude Schwesterherz-Weltbild hinein.

 

Eine Schrift unter dem Titel: „Der Wille zur Macht“ wurde von Nietzsche zu keinem Zeitpunkt autorisiert. Unter diesem Entwurfstitel handelt es sich um ein spezifisches Konvolut unabgeschlossenen Entwicklungsstands.

 

 

Nietzsche war Editionsphilosoph

 

Das Lebenswerk eines Autors, der gewissermaßen 'aus dem Chaos' schrieb, aber doch einen strengen Werkbegriff hatte und ein damit zusammenhängendes 'Authentizitätspathos', bildet sich aus unterschiedlichen Arbeitsweisen, die unterschiedliche Schreibzustände und eine Komplexität von Schriftformen hervorbringt, unterstrichen auch durch verschiedenfarbige genutzte Schreibstifte. Dies manifestiert sich nachher, wenn im Ernst über eine neue Edition nachgedacht wird, in editorischen Begriffen wie: Manuskript, Druckmanuskript, Druck, Werk, „Intendierte“, Andere, Bemerkungen und Notizen, Abschriften, Apokryphen. All diesen Momenten des Schaffens und der Entstehung hat eine Edition Rechnung zu tragen.

 

Apokryphen könnten den Rang des eigentlich verfolgten, zentralen Werks annehmen, die drei monotheistischen Religionen weisen Unterscheidungen – schaut man mal auf diese – auch auf, zumal wenn kritische Forschung Schriften, Abschriften, Apokryphen, mündliche und schriftliche Überlieferungen sowie weitere Bücher und Funde aus der Entstehungszeit und den nachfolgenden Zeiten unterscheidet. Der Überlegungen und Bedenken sind also kaum Grenzen gesetzt und die Herausgeber einer Werkausgabe „von letzter Hand“ (Nietzsches) sind nicht zu beneiden ob ihrer Aufgabe und ihrer wohl zu überlegenden Arbeitsweise.

 

Hinzuzufügen noch, dass die Edition beim Stroemfeld Verlag, Frankfurt/Basel herauskommen wird, in einem Verlag also, der, wie bekannt, als einer der ganz wenigen noch die Fahne der Aufklärung hochhält.

 

 

Zukunft der Edition

 

So wie der Spielfilm der wissenschaftlich anspruchsvollen Dokumentation vorausgeht, geht auch die eher neugierige Beschäftigung mit Nietzsche einem späteren Ernst der Rezeption voraus.

 

Es wird nun nicht so kommen müssen, dass junge Nietzsche-Leserinnen und Leser sich künftig gleich an die neue Edition halten müssten. Zur Einführung können, dürfen Schriften wie 'Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik', 'Unzeitgemäße Betrachtungen', 'Menschliches, Allzumenschliches' oder 'Jenseits von Gut und Böse' durchaus auch aus der Karl-Schlechta-Ausgabe, als einer aus dem Hausgebrauch verfügbaren, gelesen werden und ebenso die Dionysos-Dithyramben aus einer besonderen, kleinen Edition. Nietzsche Lesen beginnt lebensgeschichtlich mit unkonventionellem Umgang, das fachlich wissenschaftlich Ernste ist etwas für die eventuell später eintretende 'nähere Bestimmung'. Und verhält es sich nicht so, dass Nietzsche – cum grano salis – etwas von einem Popstar des sich ankündigenden neuen, vitalen Jahrhunderts hatte und schon insofern immer wieder Renaissancen unter noch Unabhängigen und unabhängig Gebliebenen erleben kann und muss?

 

Wer sich Friedrich Nietzsche gewissermaßen zum philosophischen Gewährsmann machen und ihn sozusagen kompromisslos wissenschaftlich erforschen möchte, wird um den Erwerb der Werkausgabe aus dem Haus Stroemfeld kaum herum kommen und das tut auch dem Buchmarkt und seiner Reputation gut.

 

Ein Thema im Zusammenhang mit Nietzsche-Beschäftigungen bleibt: krude Ideologien in dieses Werk einzumischen und mit ihm zu verbinden. Wogegen kaum ein Denker gefeit sein kann. Nietzsches Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit war eine der entschiedensten im Metier. Man kennt inzwischen auch Adorno-, und Bloch-Rezipienten, die heute 'wo ganz anders' gelandet sind. Unabhängigkeit und Offenheit macht disponibel für allerlei Interpretationen, auch von Seiten Unberufener. Nietzsche war kein Professorenphilosoph. Dumpfe Weltanschauungen, welcher Art und Sorte auch, wären ihm, dem Unabhängigen und Hellsichtigen, ein Gräuel gewesen. Bei Nietzsche hat jedes Wort, jede Formulierung die Goldwaage, ja Federwaage gespürt. Darin bleibt er Mensch der Aufklärung und Humanität, ein Anreger.

 

 

INFO:

Veranstaltung: Einführung in die laufende Editionspraxis der neuen 'Baseler' Nietzsche-Ausgabe durch Herausgeber Ludger Lütkehaus und Marc Hoffman, in Kooperation mit der Schopenhauer-Gesellschaft, Frankfurt am Main

 

Ort: Frankfurter Goethehaus, Freies Deutsches Hochstift, Großer Hirschgraben 23-25, 11. Nov. 2014 19 Uhr