Versuch eines Nachrufs auf Fritz J. Raddatz

 

Alexander Martin Pfleger

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Als Paradiesvogel bezeichnete er sich selbst nicht ungern – als Snob, Parvenü oder champagnerseliges Glamour-Girl des Kulturbetriebs schmähten ihn nicht weniger gern seine zahlreichen Gegner: Fritz J. Raddatz, langjähriger Cheflektor des Rowohlt Verlages und Feuilletonchef der ZEIT, der Entdecker und Förderer Rolf Hochhuths, Walter Kempowskis, Hubert Fichtes und Elfriede Jelineks, nahm sich am vergangenen Donnerstag im Alter von 83 Jahren in Zürich das Leben.

 

Es mutet geradezu stilecht an, daß zwischen den großen feuilletonistischen „Aufregern“ der 1990er Jahre, zwischen Bocksgesang und Paulskirchenrede, andersgelben Nudelnestern, „Mein lieber Günter Grass…“ und Zarathustra-Programm, die von Fritz J. Raddatz vorgenommene Erkundung eines Begriffs kaum Resonanz hervorrief.

 

Eleganz definierte Raddatz in seinem am 8. August 1997 in der ZEIT publizierten Artikel „Die besondere Haltung“ letztlich als moralisches Phänomen – die sinnlich greifbare Form des Gebotes „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!“.

 

Nicht Protz und Prunk, wie ihm gewiß mancher unterstellte, wohl aber Haltung und Würde machten für ihn das Wesen der Eleganz aus – der Balanceakt zwischen dem Ich und der Außenwelt; die Kunst, sich selbst zu behaupten, ohne den Anderen zu demütigen; sich und anderen Pein zu ersparen, wie es Nietzsche formulierte, und auf diese Weise der Schlechtigkeit der Welt ein Schnippchen zu schlagen, sie und das Leben schöner zu machen.

 

Hierin zeige sich auch der Unterschied zwischen dem Snob und dem Dandy – der Snob staffiere lediglich sein Ego aus, der Dandy hingegen verberge eine Verletzung, dekoriere diese bisweilen. Nicht „Haben-wollen“, sondern „Geben-können“ – Erotik statt Pornographie.

 

Eleganz ist Haltung. Gern verwechselt mit Attitüde, Allüre gar.“

 

Liest man diesen Essay, der bedauerlicherweise nicht ohne allzu erwartbare Feindbilder (Heino, Medienmogule, Popstars, Dallasberühmtheiten) auskommt, aber auch Größen des Kulturbetriebs wie der literarischen Tradition (Oscar Wilde, Bertolt Brecht, Truman Capote, Andy Warhol, Rudolf Augstein) nicht schont, im Lichte seiner Tagebücher oder seiner Autobiographie „Unruhestifter“, verfestigt sich der Eindruck, daß Raddatz hiermit, ohne es direkt ausgesprochen zu haben, vielleicht einen seiner persönlichsten Texte vorgelegt habe – ein Hungriger, der sich der Welt als Gericht servierte, wie Raddatz Adolf Muschg zitierte.

 

Tagebücher und Autobiographie offenbaren ihren Verfasser als stets nach Liebe Suchenden und stets mit der Fähigkeit Begabten, Freundschaft, Liebe und Vertrauen zu schenken – er, der durch eine wahre Kindheitshölle aus Gewalt und sexuellem Mißbrauch ging, der sich gleichwohl nicht durch sein hartes Schicksal verhärten ließ, der durch eigenes Streben wie auch durch glückliche Umstände, nach seinem Selbstverständnis stets horchend, aber nie gehorchend, zunächst im literarischen Leben der DDR und später in der Bundesrepublik Karriere machte, ohne nach oben zu buckeln oder gar nach unten zu treten.

 

Raddatz, der, „mit dem Tod in der eignen Brust den sterbenden Fechter“ spielte, wußte offenbar, sich wider alle Verletzungen und Enttäuschungen und die Einsamkeit, zu der er als Bisexueller, aller gesellschaftlichen Liberalisierung zum Trotz, bis zuletzt verurteilt war, des Lebens zu erfreuen – und dies nicht auf Kosten anderer!

 

Seinen Essay über die Eleganz beschloß er mit Versen Gottfried Benns, die für ihn „die Hoffart wie die Vergeblichkeit unseres Daseins, die beide das Wörtchen "eitel" birgt“, idealtypisch zum Ausdruck brachten:

 

und heißt dann: schweigen und walten,

wissend, daß sie zerfällt,

dennoch die Schwerter halten

vor die Stunde der Welt.“

 

Dieses „dennoch“ vermeint man gerade auch dann aus seinen Aufzeichnungen herauszulesen, wenn er die vermeintlich vergebliche Arbeit des Literaturkritikers charakterisiert, der erleben muß, wie die von ihm protegierten Autoren (Baldwin oder Breitbach etwa) bereits zu seinen Lebzeiten der Vergessenheit anheimzufallen drohten und dem – scheinbar, wie wir betonen möchten! – nicht einmal die Hoffnung auf eine spätere Bestätigung durch die Literaturgeschichte bliebe.

 

Unter den Masken der Freiheit ist die Disziplin die undurchdringlichste“ schrieb der von Raddatz vehement bekämpfte Ernst Jünger – ein Ausspruch, der gleichwohl wie auf dieses Leben gemünzt erscheinen mag.

 

Bei allem Verständnis, das wir für seine Haltung zum Thema Sterbehilfe und Freitod aufbringen – wer hätte ihm nicht gewünscht, nicht durch eigene Hand aus dem Leben scheiden zu müssen, sondern in einem letzten glücklichen Moment von Freund Hein überrascht zu werden?

 

Laßt uns, der trüben Zeit gehorchend, klagen:

Nicht, was sich ziemt, nur, was wir fühlen, sagen.

Dem Ältsten war das schwerste Los gegeben,

Wir Jüngern werden nie so viel erleben.“

 

Wir wollen ihm, dem großen Lässigen, keineswegs seine Nachlässigkeiten nachsehen: Gleichwohl liegt aber Böhmen bekanntlich (auch) am Meer, und so sei der Hoffnung Ausspruch verliehen, daß er nun von einer Warte aus, die unser Vorstellungsvermögen übersteigt, gemeinsam mit Goethe und Genet die Veränderungen im Gebiet hinter dem Frankfurter Hauptbahnhof in Augenschein nimmt – sicher wird sich dabei auch die Gelegenheit zu einer Aussprache mit Jünger und anderen finden.