Serie: ZUM 8. MAI 1945: Kapitulation und Befreiung, Teil 7: Vom deutschen Haß auf Juden und Kommunisten II

 

Kurt Nelhiebel

 

Bremen (Weltexpresso) - Eine Tendenz der Verharmlosung beherrschte auch den Umgang mit dem Rechtsextremismus der Gegenwart. Im ersten Bericht des Bundesinnenministeriums über extremistische Bestrebungen aus dem Jahr 1962 hieß es, dem Rechtsradikalismus werde eine Bedeutung beigemessen, die ihm nicht zukomme. In Wirklichkeit sei er organisatorisch zersplittert und schwach. Anders lautende Warnungen beruhten auf irrigen oder missverständlichen Zahlenangaben, die nicht selten als Hetze der Kommunisten erkannt worden seien.

 

 

Neue Berichte des Verfassungsschutzes führten zu dem Schluss, dass der Rechtsradikalismus in Deutschland vereinsame.[10] Verantwortlicher Innenminister war damals Hermann Höcherl (CSU). Knapp ein halbes Jahrhundert nach seiner grandiosen Fehleinschätzung beherrschen rechtsradikale Gruppen und Kameradschaften die Jugendszene ganzer Regionen. Nach einer bundesweiten Studie des Kriminologischen Instituts Niedersachsen haben sie mehr Mitglieder, als alle andere politischen Jugendorganisationen zusammengenommen.

 

Beherrscht von der paranoiden Angst, in die Nähe von Kommunisten gerückt zu werden, warnte das Präsidium der SPD im August 1969 die Parteimitglieder davor, sich unbesehen an Anti-NPD-Aktionen zu beteiligen, weil - wie es hieß - solche Bürgerinitiativen häufig von Kommunisten für ihre Ziele missbraucht würden. Eine besondere Rolle als "soziales Disziplinierungsmittel"[11] spielte der ideologische Antikommunismus Anfang der siebziger Jahre im Zusammenhang mit dem so genannten Radikalen-Erlass, mit dessen Hilfe unerwünschte Bewerber vom öffentlichen Dienst ferngehalten werden sollten. Als Staatsdoktrin war er Mitte der achtziger Jahre so etabliert, dass der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Alfred Dregger, ungeniert erklären konnte, er halte Hitlers Angriff auf die Sowjetunion im Nachhinein nicht für grundsätzlich falsch. Zu bedauern sei nur, "dass dieser Krieg nicht als Befreiungs-, sondern als Eroberungskrieg konzipiert" wurde. Das sei "ebenso dumm wie verbrecherisch" gewesen.[12] Um dieselbe Zeit verharmloste Regierungssprecher Hans Klein (CSU) - als habe er noch nie etwas von Oradour gehört - die Waffen-SS mit den Worten, ihre Angehörigen hätten doch geglaubt, "ihr Vaterland verteidigen zu müssen".[13] Auch das ist vergessen - sonst hätte die Fernseh-Akademie Mitteldeutschland wohl kaum einen Medienpreis nach Hans Klein benannt.

 

Drei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland funktionierte der Ausgrenzungsmechanismus nach links hin bereits wieder so perfekt, dass praktisch die gesamte westdeutsche Presse die Erschießung des jungen Kommunisten Philipp Müller bei einer verbotenen Demonstration gegen die Wiederbewaffnung am 11. Mai 1952 in Essen für nicht kommentierenswert hielt. "Der Spiegel" und die Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" nahmen von dem Ereignis nicht einmal nachrichtlich Notiz.[14] Noch heute hält die deutsche Publizistik Benno Ohnesorg, der 1967 in Berlin durch eine Polizeikugel starb, für das erste Demonstrationsopfer. In Hans-Ulrich Wehlers "Deutscher Gesellschaftsgeschichte", die nach Meinung einer konservativen Tageszeitung "Pflichtlektüre für alle Deutsche" sein sollte, taucht der Name Philipp Müller ebenso wenig auf, wie etwa der Name des hessischen Generalstaatsanwalts und Initiators des Auschwitzprozesses Fritz Bauer, dessen Warnungen vor dem fortdauernden Judenhass der Deutschen als nationale Würdelosigkeit ausgelegt wurden.

 

Auch den Namen von Ignatz Bubis sucht der Leser vergeblich in der vermeintlichen Pflichtlektüre für alle Deutschen. Als Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland musste Bubis in der Frankfurter Paulskirche mit anhören, wie Martin Walser unter dem Beifall der versammelten deutschen Elite das Denkmal für die ermordeten Juden Europas als "Monumentalisierung der Schande" und Auschwitz als "Einschüchterungsmittel oder Moralkeule" bezeichnete. Resigniert meinte Bubis in einem seiner letzten Interviews: "Ein Großteil der Bevölkerung denkt wie Walser."

 

Die meisten Deutschen hielten die Zeit für gekommen, Schluss zu machen und " nach vorne zu schauen."[15] Bubis war von der Haltung der Deutschen so enttäuscht, dass er nicht in Deutschland, sondern in Israel begraben werden wollte. Sein früher Tod ersparte ihm das erbärmliche Schauspiel, das die Bundestagsparteien zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht aufführten, als sie die Linkspartei von einer gemeinsamen Erklärung gegen den Antisemitismus ausschlossen. Erspart blieb ihm auch die Rede Martin Hohmanns zum Jahrestag der deutschen Vereinigung am 3. Oktober 2003. Darin hatte der Unionsabgeordnete unter anderem behauptet, Zar Nikolaus II. sei von einem Juden ermordet worden. Daher könne man die Juden durchaus als Tätervolk bezeichnen. Bei der Abstimmung über Hohmanns Ausschluss aus der CDU/CSU-Fraktion solidarisierte sich jeder fünfte Unionsabgeordnete direkt oder indirekt mit dem Fraktionskollegen; 28 waren gegen den Ausschluss und 16 enthielten sich der Stimme. Das entspricht exakt dem bei Umfragen immer wieder ermittelten Anteil von Antisemiten an der Gesamtbevölkerung.

 

All das wird in den Schilderungen des "Erfolgsmodells Bundesrepublik Deutschland" schweigend übergangen. Niemand erinnert daran, wie gnadenlos der Katholik Konrad Adenauer sich bei seiner Personalpolitik über die Gefühle der Opfer des Naziregimes hinwegsetzte. "Rätselhafte Kompromisse" seien da geschlossen worden, meinte später Hermann Greive in seiner "Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland". Am "wenigsten nachvollziehbar" war für den Professor für Judaistik am Martin-Buber-Institut in Köln der Fall des Staatssekretärs Hans Globke, der seinen Kommentar zu Hitlers Rassegesetzen später selbst als "entsetzlich und abstoßend" empfunden habe. "Ein Fall wie der seine - und er war ja nicht der einzige, nur eben der spektakulärste - musste die grauenvollen Ereignisse der Vergangenheit ins Zwielicht des vielleicht nicht ganz Ungerechtfertigten, jedenfalls aber Entschuldbaren rücken. Und gerade dies konnte sich auf die öffentliche, gesellschafts-politische Ordnung nur negativ auswirken."[16]

 

Auch der Umgang mit den sich von Beginn an periodisch wiederholenden Anschlägen auf jüdische Einrichtungen war gekennzeichnet von der Unlust, sich mit deren Ursachen des Antisemitismus wirklich auseinander zu setzen. Als am 17. Januar 1959 Hakenkreuzschmierereien an der Düsseldorfer Synagoge entdeckt worden waren, präsentierten Polizei und Staatsanwaltschaft noch am selben Tag einen Kommunisten als Schuldigen. Der nordrhein-westfälische Innenminister Josef Hermann Dufhues (CDU) sah "bestimmte politische Kräfte" am Werk, die Deutschland "moralisch und politisch isolieren" wollten. Zehn Monate später wurde das Ermittlungsverfahren gegen den Kommunisten sang- und klanglos eingestellt. So lange waren die Beteiligten der Notwendigkeit enthoben, die Täter in einem anderen Umfeld zu suchen. Wenige Tage nach dem Anschlag auf das jüdische Gotteshaus in Düsseldorf wurde die Synagoge in Köln geschändet. 136 weitere antisemitische Übergriffe folgten innerhalb von zwei Wochen.

 

Ungerührt von der weltweit geäußerten Sorge über ein Wiedererwachen nazistischen Ungeistes sprach Konrad Adenauer verharmlosend von "Flegeleien ohne politischen Hintergrund". Das Bundespresseamt sah wieder einmal kommunistische Drahtzieher am Werk und bezeichnete die Anschläge als "Teil einer "geplanten Aktion" zur Diffamierung der Bundesrepublik. Der Pressesprecher von Verteidigungsminister Strauß, Oberst Schmückle, informierte die Militärkorrespondenten der Deutschen Presse-Agentur so wie der Nachrichtenagenturen AP und UPI über "bundesnachrichtendienstliche Informationen", denen zu folge das Zentralkomitee der SED seine Diversionskolonnen angewiesen habe, in mehreren westlichen Ländern antisemitische Aktionen zu unternehmen, um die NATO-Partner gegeneinander aufzubringen. Einsehen durften die Journalisten die Unterlagen nicht. Sie sollten auch nicht sagen, von wem sie ihr Wissen über die vermeintlichen Drahtzieher im Osten hatten.

 

 

Anmerkungen:

 

[10] Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. April 1962.

 

[11] Werner Hofmann, Stalinismus und Antikommunismus, Frankfurt/M., 1967, S. 158

 

[12] Alfred Dregger, Der Preis der Freiheit, Universitas Verlag, München, 1985, S. 11

 

[13] "Quick" 2. Mai 1989, zitiert in "Die Verharmloser", Donat Verlag Bremen, 1996.

 

[14] Conrad Taler, Der braune Faden, PapyRossa Verlag, Köln, 2005, S. 146 f.

 

[15] "Stern", 16. 8. 1999.

 

[16] Hermann Greive, Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1983, S. 173.

 

 

INFO:

 

(Der Aufsatz erschien 2010 gekürzt unter der Überschrift „Der braune Faden“ in der Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“, Heft 4, S. 105.)