Wer verbirgt nun die brennende Fahne im Zopf und wer dreht die Kaffeemühle?

 

Wolfgang G. Weber

 

Innsbruck (Weltexpresso) - Schlingensief war Kaspar Hausers Antipode. Wurde Letzterem, frei nach Peter Handke, die Sprache seines Herzens durch Sprachfolterung entbildet, so quälte Christoph Schlingensief die Nachkömmlinge von Hausers saturierten Inquisitoren mit alptraumhaften Bildern, Schreien und Schreinen, mit Saturnalien und Satyrspielen, mit dem Antlitz des Leidens ihrer Opfer - und schlimmer noch - mit der Möglichkeit, dass die Genezareth’sche, Satyagraha’sche und Memphis’sche Vision Wirklichkeit annehmen kann (und muss).

 

Im Zuge der Schlingensief'schen Katharsis besteht für fleischgewordene Menschenverachtung und sozialdarwinistische Terrorökonomie immer die Gefahr, dass ihr das Biotop entzogen wird, indem eine menschenwürdige Lebenswelt ein Stück entmenschlichte, nämlich abstrakt gerechnete Systemwelt erobert und kolonialisiert.

 

Biedermännische Zuschauer und Zuschauerinnen, die während seiner kaleidoskopischen, viele Sichtweisen anbietenden Werksaufführungen immer auch Beteiligte wurden, oft gegen ihren ihnen eingepflanzten Willen, erfuhren sich immer auch von einer anderen Seite, erblickten ihre ihnen fremdgemachten, in medialer Inszenierung verborgenen, brandstiftenden Doppelgänger, ihre Widersacher, denen sie oft gerade deshalb, weil sie mit all dem nichts zu tun haben wollten, was seinem himmlischen Welttheater zugrunde liegt, in ihrem Entsetzen dieser Selbsterfahrung der anderen Art so wenig entgegensetzten.

 

Christoph Schlingensief und seine Sympathisanten und Sympathisantinnen (weiche, Untertanengeist!) auf der ganzen Welt haben uns in kunstvollem Widerstand machbare Alternativen zu solcher spießbürgerlichen Ohnmachtslust, Furcht vor der Freiheit und Hass auf das Befreiende aufgezeigt. Wenn Jaroslav Hasek der Prophet, Bertolt Brecht der Schöpfer, Josef Beuys der sprachlose Prediger und Heiner Müller der heimkehrende Sohn der Verfremdung des Entfremdenden und Entfremdeten sind, dann ist Christoph Schlingensief ihr Wegweiser in die Zukunft, in den Beginn der Menschheitsgeschichte als menschliche Geschichte. Seine wunderlichen Provokationen sind zunehmend geprägt von Mitgefühl und Mitleiden mit all denen, deren Würde und Wohl irgendwo auf der Welt mit Stiefeln getreten werden und kämen die neuen Kaiser auch auf den Samtpfoten des globalisierten Rechnungswesens daher.

 

 

Weh, unser guter Kaspar ist tot“

 

Leisten wir Fürbitte für ihn und für uns: Sein Bruder / seine Schwester im Geiste von Hans und Sophie (auch Arp), versehen mit dem Schweißtuch von Anna Blume, der Niemandsrose, führen uns dabei in Versuchung: „weh unser guter kaspar ist tot / wer verbirgt nun die brennende fahne im zopf und wer dreht die kaffeemühle / wer lockt nun das idyllische reh / auf dem meer verwirrte er die schiffe mit dem wörtchen parapluie und die winde nannte er bienenvater / weh weh weh unser guter kaspar ist tot“. Hast unsere Schuld auf Dich genommen, beschimpft, verfolgt und in Vielfalt verleumdet. Für die Armen im Geiste. (Eine Bühne, eine Bühne!) Für die, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten. (Rein innen Container, raus außem Container.) Für die Trauernden. (Transformationen der Hoffnung vom Egomanen zum König in Dir.) Für die Ängstlichen. (Eine Kirche.) Eine Kirche. Petrus Schlingensief, wirf uns Steine vor die Füße. Noch aus dem Jenseits ins Hier. Dass wir lernen, unseren persönlichen Hamlet zu inszenieren, volles Karacho-Rohr, und lernen von unseren afrikanischen Mitbrüdern und -schwestern. Wir gedenken Deiner. Ein Mensch wie wir, wie du, wie ich, wir alle – und damit auch besonders? Der, der er war, mehr nicht? Mehr nicht? ECCE HOMO.

 

Stets der Weltexpressionist, durch Filterpresse geschossene Kaffeesätze lesend, welche, gesalbt und gesiebt mitunter Schlingeneier legen für Cappuccinoworkaholiker. Christoph Schlingensief’s Gegenaufklärung über die Postmoderne der Conquistadoren der scheinheiligen, quartalsdebilen Ackerleute (wo waren sie denn, als Adam grub und Eva spann?) und der mammongeschwängerten, kuhglockenbewehrten, kreideverschlungenen Volksdümmler hat durch ihre anstößigen Denk-Mäler viel dazu beigetragen, dass hoffentlich beim nächsten Mal der Tod nicht mehr ein blauäugiger Meister aus Deutschland sein wird, dass hinter der Sonne keine schwarze Kegelbahn mehr donnern wird und keine schwarzen Schwäne mehr in deutschen tragisch-trägen trüben Seen ihre Nahrung finden werden.

 

Sein Kant’iger Geist, vereint mit dem Significant Other, dem Universal Mind und Germania’s Tod in Berlin, den er auch in Bayreuth nicht loswerden wollte, wird unsere Trauer um ihn läutern und kreativen Widerstand entzünden, überall, wo mindestens zwei in seinem Namen zusammen sind. Weiße Pfingstrosen mögen blühen jeden Tag - mit Weltenweite. Drum lasset uns nun Eulenspiegeleier braten, zu seinem und für unser Gedächtnis.

 

Forever young - because the night belongs to lovers, break on through to the other side, Christoph.

 

In Dankbarkeit für all die von uns anzueignenden Auswege aus den angegafften, beherrschten (auch virtuellen) Realitäten, die uns Deine Laterna Magica zum Vorschein gebracht hat.

 

Info:

Dieser Beitrag erschien vorab in einer Printversion in der Internationalen Zeitschrift für Sozialpsychologie und Gruppendynamik in Wirtschaft und Gesellschaft, Wien.

 

Nützliche Links:

www.schlingensief.com/start.php

 

Fotonachweis:

Büro Christoph Schlingensief

 

Autoreninfo:

Wolfgang G. Weber ist Forscher und Hochschullehrer für Angewandte Psychologie an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Dieser Beitrag entstand unter Mitarbeit von Tatjana Schnell und Harald Lutz.