Serie: 50 Jahre nach dem Auschwitz-Prozess. Ein anteilnehmender Journalist berichtet.Teil 2/5

 

Kurt Nelhiebel

 

Bremen (Weltexpresso) - Wie Schlachtvieh wurden die Opfer in Güterwagen aus allen besetzten Ländern Europas in die Todeslager transportiert. Noch auf der Bahnrampe rissen SS-Angehörige die Familien auseinander. Der arbeitsfähige Vater und der Bruder mussten nach rechts, die Mutter mit dem Kleinkind auf dem Arm und die Oma nach links. Sie wurden auf direktem Weg in den Tod geschickt. Vor den Gaskammern mussten sie sich - angeblich zum Duschen - nackt ausziehen. Eng aneinander gedrängt starben sie an den giftigen Dämpfen eines Mittels zur Schädlingsbekämpfung. Zyklon B hieß das Blausäurepräparat.

 

Die für arbeitsfähig gehaltenen Ankömmlinge vermietete die SS an deutsche Firmen, die Auschwitz in Erwartung billiger Arbeitskräfte als Standort für neue Produktionsstätten ausgewählt hatten. Die Opfer selbst bekamen keinen Lohn. Nutznießer waren namhafte Unternehmen wie Krupp und der Chemiekonzern IG Farben. Wenn die Kräfte der Arbeitssklaven versiegten, wenn sie arbeitsunfähig wurden, kamen auch sie in eine der Gaskammern oder wurden mit Phenol durch einen Stich mit der Spritze direkt ins Herz getötet. Einer dieser „Phenolspezialisten” saß während des Auschwitz-Prozesses nur wenige Meter von mir entfernt. Nichts in seinem Gesicht deutete auf seine grauenvolle Vergangenheit hin.

 

Die planmäßige Ermordung von Millionen Menschen war nicht kriegsbedingt, sondern ein Ergebnis des Rassenwahns der Nazis. Er fiel in Deutschland auf fruchtbaren Boden. Dabei stellten die Juden eine verschwindende Minderheit dar. Ihr Anteil an der deutschen Bevölkerung betrug nur ein Prozent. Dennoch behaupteten die Nazis, an allem Unheil seien die Juden schuld. Ihr Blut sei verdorben und dürfe sich niemals mit dem Blut von Nichtjuden vermischen. Intime Beziehungen eines Juden zu einer nichtjüdischen Frau wurden mit dem Tode bestraft.

 

Bevor die Nazis daran gingen, die Juden aus der menschlichen Gemeinschaft auszuschließen, unterdrückten sie brutal ihre politischen Gegner. Als erste kamen Kommunisten und Sozialdemokraten an die Reihe. Dann wurden Gewerkschafter, liberale Politiker und Intellektuelle in Konzentrationslager und Gefängnisse gesperrt. Konservative Politiker, die nicht mit den Wölfen heulten, blieben gleichfalls nicht verschont. Aufrechte Priester mussten sterben, weil sie Gott mehr gehorchten als den Machthabern des so genannten Dritten Reiches. Neben Juden, Sinti und Roma und anderen starben in Auschwitz auch viele politische Gegner Hitlers.

 

 

Bleibende Gefahr

 

Auschwitz, das war nicht nur der fabrikmäßige Massenmord in den Gaskammern, sondern das waren auch die Todesschüsse an der Schwarzen Wand, die medizinischen Versuche an Kindern und das waren die Stehzellen, in denen man die Opfer qualvoll verdursten und verhungern ließ. Die Täter mordeten nicht unter Zwang, sie befanden sich nicht in einem Befehlsnotstand. In ihrem persönlichen Hass auf Juden und Kommunisten stimmten sie völlig mit der Naziführung überein.

 

Wer nicht mitmachen wollte, wem vielleicht das Gewissen schlug, der konnte ohne disziplinarische Folgen seine Versetzung an die Front beantragen. Das ist durch Dokumente belegt und Zeugen im Auschwitzprozess haben das bestätigt. Dieses freiwillige Mittun ist das eigentlich Unfassbare. In der Neigung der Menschen, sich den jeweiligen Gegebenheiten anzupassen, in ihrer Angst vor dem Nein zu staatlichem Unrecht, schlummert eine bleibende Gefahr für die Zukunft: Allzu Viele haben ein kurzes Gedächtnis, lassen sich manipulieren, im Zeitalter der elektronischen Massenmedien leichter denn je.

 

Es hat lange gedauert, bis einige Beteiligte an den Auschwitz-Verbrechen 1963 in Frankfurt am Main vor Gericht gestellt wurden. Ich war als Journalist dabei, als die Überlebenden der Todesfabrik in den Zeugenstand traten und in Gegenwart ihrer Peiniger zu Protokoll gaben, was in Auschwitz geschah. Auf der Anklagebank sah ich Männer mit Durchschnittsgesichtern, keine Monster mit blutunterlaufenen Augen. Kaufleute waren darunter, Handwerker, Apotheker und Zahnärzte, Menschen wie du und ich. Aber sie verkörperten ein Grauen, das mich bis in den Schlaf hinein verfolgte.

 

Als die Verhandlung begann, war ich Mitte dreißig. Über die Todesfabrik im besetzten Polen hatte ich schon einiges gelesen. Dennoch erlebte ich den Prozess wie einen Alptraum. Quälend war jedes Mal auch die Rückkehr in den Alltag. Musste das Leben nicht stillstehen angesichts des Grauens, das eben noch im Gerichtssaal auf mich eingestürmt war? Aber draußen nahm alles seinen gewohnten Gang. Geschäftig wie immer eilten die Menschen hin und her und ihre unbeteiligten Gesichter wirkten auf mich wie Masken aus einer anderen Welt. In den Prozessberichten erfüllte ich meine Chronistenpflicht nach bestem Wissen und Gewissen. Ein neutraler Beobachter war ich nicht. Wenn mir jemand wegen meiner Parteinahme für die Opfer mangelnde Objektivität vorwirft, dann ehrt mich das.

 

Über den Tag der Urteilsverkündung schrieb ich: „Dieser 19. August des Jahres 1965 ist ein Tag wie jeder andere auch. Durch die Stadt wälzt sich der Verkehr, Autos stauen sich an Ampeln, Trambahnen schieben sich durch das Gewühl, auf den Gehsteigen hasten die Menschen zur Arbeit, auf dem Schulhof nebenan lärmen Kinder. Und doch ist dies ein besonderer Tag, denn inmitten dieser Stadt wird heute das Urteil in einem Verfahren verkündet, das in der Geschichte ohne Beispiel ist.

 

Die Angeklagten werden hereingeführt, als erster wie immer der hinkende frühere Arrestverwalter im Todesblock 11, Bruno Schlage. Der ehemalige Gestapomann Wilhelm Boger, der „schwarze Tod” von Auschwitz, trägt wie immer den Anflug eines Lächelns im harten Gesicht. Mit brüchiger Stimme, der man die nervliche Belastung anmerkt, verliest der Gerichtsvorsitzende Hofmeyer das Strafmaß für die 20 Angeklagten: Sechsmal lebenslanges Zuchthaus, elfmal begrenzte Freiheitsstrafen zwischen 3 und 14 Jahren und dreimal Freispruch - das ist in dürren Worten die Bilanz dieses Prozesses.Fortsetzung folgt.