Die Faszination der düsteren Königsdramen Shakespeares an der Schaubühne Berlin
Hanswerner Kruse
Berlin (Weltexpresso) - Seit 2008 ist „Hamlet“ mit Lars Eidinger in der Berliner Schaubühne ständig ausverkauft. Auch die Karten für „Richard III“ mit Eidinger sind in diesem Jahr immer sofort vergriffen.
Zu lauter Rock-Musik stürmt eine aufgedrehte Gesellschaft die Bühne, lüsternd begrapschen sich die Akteure. Hinter ihnen hinkt der bucklige Richard (Lars Eidinger) herein und murmelt seinen traurigen Monolog: „Doch ich, zu Possenspielen nicht gemacht / Entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt / In diese Welt des Atmens, halb kaum fertig / Gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend / Dass Hunde bellen, hink ich wo vorbei...“
Die Bühne ist eine halbrunde Manege, steil erheben sich die Zuschauerränge. Ganz nah ist man den Spielern und wird komplizenhaft in das Geschehen hinein gezogen. Regisseur Thomas Ostermeier ließ dauerhaft Shakespeares „Globe“-Theater nachbauen.
Bald fordert der völlig entblößte Richard von Lady Anne (Jenny König), ihn mit seinem Schwert zu töten, weil er doch ihren Mann ermordete - aber zum Schluss küsst sie ihn. Mit solch eindringlichen Bildern, dann wieder mit Klamauk, wird die Geschichte Richards erzählt, der sämtliche Widersacher aus dem Weg räumte, um Englands König zu werden. Die Inszenierung hält sich an Shakespeares Vorlage, aber sie ist stark verdichtet, vieles wird nur angedeutet. Gelegentlich agieren die alltäglich gekleideten Figuren wie Investment-Banker oder Fifa-Funktionäre, dennoch ist das Geschehen bewusst zeitlos. Auch die neu übersetzte Sprache, mal schnodderig, mal elaboriert, stellt keinen Gegenwartsbezug her.
Zum Schluss mampft Richard III als gekrönter Herrscher Pellkartoffeln mit Quark, schmiert sich mit der weißen Masse seine Totenmaske, knallt wütend den Teller an die Wand, versucht zu schlafen, springt verzweifelt auf, tobt in einem psychotischen Gefecht mit unsichtbaren Feinden über die Bühne: „Ein Pferd, ein Königreich für ein Pferd!“ Am Ende der atemberaubenden Szenen hängt er leblos mit seinem Klumpfuß an einem Seil von der Decke herab.
Es ist starkes Bildertheater, das Ostermeier da vorführen lässt. Die Schauspieler können dem dominierenden Eidinger - genauso wenig wie ihre Figuren dem Richard - Paroli bieten. Nur Margaret, machtlose Witwe des Königs Heinrichs VI, dargestellt von einem Mann (Robert Beyer), kann Richard beeindrucken.
Wir Zuschauer sind auf Seiten des Krüppels, leiden mit ihm, bangen mit ihm, hassen mit ihm - trotz seiner tödlichen Intrigen. Gewaltig verstärkt Eidinger mit seinem eitlen Spiel zwischen Exzentrik und Autismus (wie einst Klaus Kinski in seinen Rollen als verzweifelter Bösewicht) unsere Identifikation: Die ist beileibe kein empathisches Mitleiden!
„Bin ich gewillt ein Bösewicht zu werden / Und Feind den eitlen Freuden dieser Tage“, so beendete Richard zu Beginn des Stückes seinen Monolog. Shakespeare ließ darin Raum für eigene Projektionen der Zuschauer, gab ihnen die Möglichkeit, eigene Verwundungen zuzulassen. Sie können sich in „innere Gemeinschaft“ mit Richard begeben, auf die schon Sigmund Freud aufmerksam machte: „Ich darf selbst Unrecht tun, denn an mir ist Unrecht geschehen - und nun fühlen wir, dass wir selbst so werden können wie Richard.“
Foto: Schlußbild © Arno Declair
Info:
Weitere Aufführung von „Hamlet“ und „Richard III“ in der gesamten Spielzeit 2015/16. Geheimtipp: Karten sofort am 1. eines jeden Monats bestellen www.schaubuehne.de
Dieses Jahr präsentierte die Schaubühne „Richard III“ beim Theaterfestival in Avignon, der vollständige Mitschnitt durch ARTE ist bei YouTube unter https://www.youtube.com/watch?v=dDVyc9Pgou0 zu sehen.