Was steckt hinter den „heiklen Aktenfunden“ zu Fritz Bauer?
Kurt Nelhiebel
Bremen (Weltexpresso) - Im Frühjahr 2015 verabschiedete sich Raphael Gross als Direktor des Fritz-Bauer-Instituts im institutseigenen Bulletin ohne ein Wort des Gedenkens an Fritz Bauer.(1) Er trat damit in die Fußstapfen des Leiters der Dokumentation des Fritz-Bauer-Instituts, Werner Renz, der zwei Jahre davor in einem Vorwort zur Neuauflage eines Buches über den Auschwitz-Prozess den Initiator des Prozesses ebenfalls mit keiner Silbe erwähnt hatte.(2)
Journalisten bezeichnen das als die „schärfste Form der publizistischen Bestrafung“.(3) Der neue kommissarische Direktor des Fritz-Bauer-Instituts, Werner Konitzer, hält sich an die Tradition: Er stellte das Bulletin des Instituts für eine Art symbolischer Hinrichtung des hessischen Generalstaatsanwalts zur Verfügung. Als Scharfrichter fungierte Georg D. Falk.(4)
Eine breitere Öffentlichkeit erfuhr von dem Vorgang durch das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Unter der Überschrift „Heikle Aktenfunde zu Nazijäger Fritz Bauer“ meldete das Blatt am 24. Oktober 2015, der ehemalige Richter am Frankfurter Oberlandesgericht und Leiter eines Projektes zur Aufarbeitung der Geschichte dieses Gerichts, Georg D. Falk, habe Unterlagen ausgewertet, die Schatten auf das Wirken jenes Mannes fallen ließen, der maßgeblich dazu beigetragen habe, dass der Auschwitz-Prozess zustande gekommen und der NS-Kriegsverbrecher Adolf Eichmann gefasst worden sei. „Ausgerechnet Bauer“, so hieß es, der die hohe Zahl belasteter NS-Juristen beklagte, habe mehr als hundert Ermittlungsverfahren gegen Richter und Staatsanwälte eingestellt, die Todesurteile im „Dritten Reich“ zu verantworten gehabt hätten. Besonders befremdlich erscheine der Fall der Polin Stanisława Janczyszyn, die mit ihrem Leben dafür büßen musste, dass sie ein jüdisches Kind versteckt hatte. Wegen des „nicht nachvollziehbaren“ Verhaltens von Fritz Bauer blieben, dieser Darstellung zu Folge, die für das Todesurteil verantwortlichen Richter ungeschoren.
Fritz Bauer ein Schutzpatron belasteter Nazis – das klingt ungefähr so, als würde man Albert Schweitzer Kannibalismus oder Mutter Theresa Prostitution nachsagen. Für den Politikwissenschaftler Joachim Perels verkörperte Fritz Bauer „gleichsam das rechtliche Gewissen der Republik“. (5) Falk bezeichnet die Einstellungsverfügung aus heutiger Perspektive als „nicht nachvollziehbar“. Die in der Literatur wiederholt – auch von ihm selbst - geäußerte Auffassung, Fritz Bauer habe bei Ermittlungen gegen belastete Richter ‚nicht anders gekonnt’ und entsprechende Verfahren einstellen ‚müssen’, halte einer kritischen Prüfung nicht stand. Angesichts der Ermittlungsergebnisse wäre ein Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung „zwingend“ gewesen.
Stattdessen habe der Generalstaatsanwalt dem hessischen Justizministerium mitgeteilt, es sei „nicht damit zu rechnen“, dass das zuständige Gericht den Prozess weiterführen werde. Für diese Annahme gab es gute Gründe. Vielleicht war die Einstellungsverfügung auch eine Form des Protestes gegen die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, der nach eigenem Eingeständnis einen „wesentlichen Anteil“ an dem Geschehen hatte. „Diese Rechtsprechung ist auf erhebliche Kritik gestoßen, die der Senat als berechtigt betrachtet. Insgesamt neigt der Senat zu dem Befund, dass das Scheitern der Verfolgung von NS-Richtern vornehmlich durch eine zu weitgehende Einschränkung bei der Auslegung der subjektiven Voraussetzungen des Rechtsbeugungstatbestandes bedingt war.“(6)
Im Freispruch für den Nazirichter Hans-Joachim Rehse vom 6. Dezember 1968 berief sich unter anderem das Schwurgericht bei dem Landgericht Berlin auf diese Rechtsprechung. Dort heißt es, ein Richter könne wegen einer durch richterliche Entscheidung verursachten Tötung nur bestraft werden, wenn er die Entscheidung durch vorsätzliche Rechtsbeugung getroffen habe; dabei sei der Nachweise des unbedingten Vorsatzes erforderlich. (BGHSt 10, 294). Das heißt, nur wenn der Beschuldigte gestand, bewusst gegen das geltende Recht verstoßen zu haben, konnte er belangt werden. Versicherte er dagegen, sich an die geltenden Gesetze gehalten zu haben, konnte er nicht wegen Rechtsbeugung verurteilt werden.
Diese Hürde hatte der Bundesgerichtshof am 7. Dezember 1956 errichtet. Er entschied: Wer wegen seiner Tätigkeit als Beamter oder Richter in einer Rechtssache zur Verantwortung gezogen wird, kann auch nach anderen Vorschriften als § 336 StGB (insbesondere nach den §§211 f. 239 StGB) nur dann verurteilt werden, wenn ihm eine Rechtsbeugung im Sinne des Paragraphen 336 nachgewiesen wird. §336 erfordert bestimmten, nicht nur bedingten Vorsatz. (I StR 56/56). Demnach kann ein Richter oder Staatsanwalt wegen Mordes oder Totschlags nur verurteilt werden, wenn die Tat Folge einer nachgewiesenen Rechtsbeugung ist.
Damit waren Richter praktisch unangreifbar. Kein Generalstaatsanwalt konnte daran etwas ändern. Bauers Stuttgarter Amtskollege Erich Nellmann stellte am 27. Juni 1960 unter Verweis auf die genannte Entscheidung des BGH das Verfahren gegen den NS-Richter Paul Reimers ein, dem 120 Todesurteile zur Last gelegt wurden. (Js 4/60). Zur Begründung erklärte er, auch wenn man davon ausgehe, dass gesetztes Recht missbräuchlich angewendet worden sei, scheitere die Feststellung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschuldigten daran, „dass nicht aufzuklären ist, ob und inwieweit solche Verurteilungen seinem Votum entsprachen“. Die Beschuldigten in dem von Georg Falk gegen Fritz Bauer ins Feld geführten Fall kannten die Hintertüren, die ihnen der BGH geöffnet hatte. Ihm sei nicht bekannt gewesen, argumentierte einer von ihnen, „dass ein Richter die Anwendung eines ordnungsgemäß erlassenen Gesetzes ablehnen kann.“ Der zweite erklärte: „Da ich mich an das Beratungsgeheimnis gebunden fühle, sehe ich mich daran gehindert, den Hergang bei der Beratung und Abstimmung über dieses Urteil zu offenbaren.“ Im Gesetzblatt veröffentlichte Gesetze und Verordnungen mit Gesetzeskraft stellten für einen Richter „bindendes Recht“ dar. Der dritte meinte, bezogen auf eine Verordnung des Generalgouverneurs Hans Frank, die dem Todesurteil gegen die polnische Beschützerin eines jüdischen Kindes zugrunde lag, ihm sei niemals der Gedanke gekommen, dass die Verordnung rechtswidrig sein könnte.
Fritz Bauer hielt die Einlassungen der Beschuldigten für nicht überzeugend, kam aber zu dem Schluss, dass sich ihnen niedrige Beweggründe im Sinne der Rechtsprechung zu § 211 StGB nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachweisen ließen. (vgl. BGHSt 18, 37 f.f.) Georg Falk hält die Beschuldigten im Nachhinein für hinreichend verdächtig, einen Mord im Sinne des § 211 begangen zu haben. Vorsätzliche Rechtsbeugung hätte sich u. a. auf der Grundlage eines Urteils gegen einen früheren Richter der DDR begründen lasen. Mit dem verfuhr der Bundesgerichtshof in der Tat ganz anders, als mit den Nazi-Richtern. Betroffen war der Vorsitzende der 6. (politischen) Strafkammer des Landgerichts Magdeburg Ernst Oehme, der 1952 nach Westberlin geflüchtet war. Er wurde am 16. Februar 1960 vom Bundesgerichtshof mit Begründung für schuldig befunden: „Ein Strafrichter begeht, mag auch sein Schuldspruch keine vorsätzliche Rechtsbeugung enthalten, dennoch Rechtsbeugung, wenn er bewusst eine Strafe verhängt, die nach Art oder Höhe in einem unerträglichen Missverhältnis zu der Schwere der Tat und der Schuld des Täters steht. (vgl. BGHSt3,110,118 ff.).“(7)
Oehme hatte gegen Regimegegner Zuchthausstrafen zwischen dreieinhalb und zehn Jahren verhängt. Seiner Verurteilung durch den Bundesgerichtshof lagen unverkennbar politische Motive zugrunde. Zu einer Verurteilung der drei Nazirichter, die den Justizmord an Stanisława Janczyszyn begangen haben, wäre es hingegen niemals gekommen, auch wenn Fritz Bauer einen Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung gestellt hätte.
Mit seiner Behauptung, die Einstellung des Ermittlungsverfahrens wegen dieses Justizmordes durch Fritz Bauer setze fort, was wenige Jahre vorher bundesweit massenhaft geschehen sei - Ermittlungsverfahren gegen im Zuge der „Blutrichterkampagne“ der DDR beschuldigte Juristen seien eingestellt worden - macht Falk Fritz Bauer zum Beteiligten am Freispruch für die Nazijustiz. Das schreit nach einer Gegenrede:
„Fritz Bauers Verdienste um die Demokratisierung, Liberalisierung und Humanisierung der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland sind singulär. Für Studentinnen und Studenten, die Ende der 1960er Jahre ihr Jurastudium begannen, war er ein Leuchtfeuer in schwierigen Zeiten. Er gab Mut, Orientierung und Zuversicht. Seine Tätigkeit als Generalstaatsanwalt begründete ‚Höhepunkte in der hessischen und deutschen Justizgeschichte’.(8) Bauer gehörte zu den wenigen Initiatoren der Verfolgung von NS-Verbrechen; ohne ihn wäre dieses dunkle Kapitel der bundesdeutschen Justizgeschichte noch schändlicher ausgefallen.“ Die Gegenrede stammt – „nur um Missverständnissen vorzubeugen“ - von Georg D. Falk selbst.
In Goethes Schauspiel „Torquato Tasso“ äußert Tasso sein Missfallen an dem Verhalten der Leonore Sanvitale wie folgt: „(…) und wenn sie auch/die Absicht hat, den Freunden wohl zu tun, / so fühlt man Absicht, und man ist verstimmt.“(9)
ANMERKUNGEN:
(1) Fritz Bauer Institut, Einsicht 13, Frühjahr 2015.
(2) Bernd Naumann, Der Auschwitz-Prozess, Mit einem Vorwort von Werner Renz, 2013.
(3 Ronen Steinke, Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht , 2013, S. 249
(4) Georg D. Falk, Der ungesühnte Justizmord an Stanisława Janczyszyn, Zur Einstellung eines Ermittlungsverfahrens durch die hessische Justiz im Jahre 1964, Einsicht 14,S. 40-47, Herbst 2015.
(5) Joachim Perels, Der Mythos der Vergangenheitsbewältigung, Fritz Bauer Institut, Newsletter Nr. 28, S. 17 f.
(6) Urteil vom 16. November 1995 (AZ5 StR 747/94)
(7) Conrad Taler, Zweierlei Maß, Köln 2002, S. 66 f.
(8) Matthias Meusch, Von der Diktatur zur Demokratie. Fritz Bauer und die Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Hessen (1956-1968), Wiesbaden 2001, S. 382.
(9) Johann Wolfgang Goethe, Torquato Tasso / II. Aufzug, 1. Auftritt
Foto:
Unser Autor zu Zeiten des Auschwitzprozesses, über den er berichtete.