Über Verständnisschwierigkeiten beim Lesen der Weihnachtserzählung
Klaus Philipp Mertens
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die meisten Christen, sowohl die Streng- als auch die Ungläubigen, kennen die Weihnachtsgeschichte.
Sie haben über die Geburt Jesu im Stall von Bethlehem gehört oder gelesen, ebenso über seine Eltern Maria und Josef (wobei in den Legenden Josef nicht die leibliche Vaterschaft zuerkannt wird, weil Maria durch den Geist Gottes schwanger geworden war). Auch die Hirten, die von den Feldern zur Krippe kamen, um dem Kind zu huldigen, sind ihnen bekannt. Ebenso die Weisen aus dem Morgenland (also dem Morgenland östlich dem palästinischen Morgenland, was auf das Zweistromland, gar Persien, schließen lässt); allerdings sind über deren tatsächliche Identitäten verschiedene Versionen im Umlauf: Waren es Weise, Magier oder gar Könige?
Das Lukas-Evangelium berichtet im zweiten Kapitel, dass sich Jesu Eltern von Nazareth aus auf den Weg nach Bethlehem begaben, weil der römische Statthalter Quirinius eine Volkszählung angeordnet hatte. Dazu musste man (jeder Mann mit seiner Frau) sich im Geburtsort melden. Diese Zählung fand allerdings erst im Jahr 6 unserer Zeitrechnung statt. Na, ja; wenn es um Höheres (Göttliches) geht, kann man sich in kleinen Dingen schon mal irren. Nachdem das Kind auf die Welt gekommen war, kehrte es mit seinen Eltern nach Nazareth zurück.
Laut Matthäus, dem Verfasser des anderen Evangeliums, das ebenfalls eine Weihnachtsgeschichte erzählt, wohnten Maria und Josef in Bethlehem, flüchteten jedoch nach Ägypten, weil König Herodes alle neugeborenen Knaben, unter denen er einen Konkurrenten um seinen Thron vermutete, töten ließ (Jesus / Jehoschua war im Alten Testament als Messias, als künftiger König und Erlöser Judas prophezeit worden). Herodes regierte jedoch nur bis zum vorchristlichen Jahr 4; ein Kindermord lässt sich historisch nicht nachweisen. Später lebten Josef, Maria und Jesus in Nazareth. Die Geschichten von Lukas und Matthäus, so unterschiedlich sie das Geschehen lokalisieren und datieren, stimmen aber darin überein, dass Jesus als von einer Jungfrau geboren gilt (jedenfalls in Lukas, Kapitel 1, wenn auch nicht mehr in Kapitel 2).
Markus hingegen, der das älteste Evangelium verfasste (ca. 60 n. Chr.), berichtet nichts von einer Jungfrauengeburt. Auch Stall, Hirten, Weise (Magier, Könige) waren ihm nicht bekannt. Sein Bericht beginnt mit Johannes dem Täufer, von dem sich der erwachsene Jesus taufen ließ. Auch Paulus, dessen frühester Brief (1. Thessalonicher) sich auf die Jahre 51 bis 53 datieren lässt, und Johannes, der vermutlich im siebten oder zu Anfang des achten nachchristlichen Jahrzehnts sein Evangelium niederschrieb, kannten keine Gotteszeugung, keine Geburt im Stall und keine frühen Huldigungen durch Hirten und weise Männer.
Was lässt sich aus diesen Widersprüchen schließen? Der antike Mensch nahm es nicht so genau mit der historischen Wahrheit. Folglich verschwimmen in den Überlieferungen die Grenzen zwischen tatsächlichen Ereignissen und hinzu Erfundenem. Zur Herausstellung der Bedeutsamkeit Jesu (die erst viele Jahre nach seinem Tod in den ersten größeren judenchristlichen Gemeinden einsetzte) wird ein Schema benutzt, das auch sonst in der Antike die Bedeutsamkeit eines Mannes anzeigt: Die besonderen Umstände der Geburt, beispielsweise durch eine Jungfrau, und die Gotteszeugung. Die neutestamentlichen Autoren bedienten sich bei ihren Schilderungen der Legende. Oft kann man, wo dies Aussagemittel benutzt wird, noch feststellen, an welche historische Wirklichkeit solche Legende anknüpft und mit welcher Absicht Geschehnisse umgedeutet werden. So wird Nazareth mutmaßlich Jesu wirklicher Geburtsort gewesen sein und es gab ein Stadium christlicher Tradition, in dem Maria noch nicht als Jungfrau bei der Geburt Jesu galt.
Die Weihnachtsgeschichte ist typisch für den legendären Charakter neutestamentlicher Berichterstattung, sie ist nicht die Ausnahme, sondern das durchgängige Motiv aller Erzählungen. Der interessierte Leser der Evangelien braucht nur eine Synopse zur Hand zu nehmen, in welcher die drei ersten Evangelien-Texte nebeneinander abgedruckt sind. Dann ist er - bei etwas Übung - rasch in der Lage, das Legendäre der jeweiligen Berichterstattung aus dem Vergleich der Texte zu erkennen. Das gilt für kleine und relativ unbedeutende Abschnitte des Berichteten; es gilt aber auch für die großen und zentralen Aussagen des Neuen Testaments, auch für die Auferstehung Jesu.
Dies im damaligen hellenistisch-orientalischen Raum weit verbreitete Schema religiöser Erzählungen wird im gesamten Neuen Testament angewendet, um die Bedeutung Jesu zu verdeutlichen. Ihm werden sowohl alttestamentliche als auch griechische Heilstitel gegeben. Er gilt als Messias (Gesalbter), geistlicher und weltlicher Erlöser und Herrscher und als präexistenter Gott, der in die Welt herabgestiegen ist und nach einer Opfertat in die göttliche Sphäre zurückkehrt (siehe „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ im Johannes-Evangelium).
Mit diesem Mythos vollzieht sich eine qualitative Verlagerung: Aus dem Verkünder des Heils wird der Verkündete. Zu den Predigten Jesu über das Heil der Menschen und das Gericht Gottes, die zumindest in groben Skizzen historisch nachgezeichnet werden können, tritt in der Gemeinde und der späteren Kirche die Christologie hinzu (abgeleitet von Kyros, dem persischen Wort für König) und überblendet das erstere.
Übrigens: All das lernt jeder Theologiestudent / jede Theologiestudentin. Nur sie sollen es, falls sie in kirchliche Dienste eintreten, nicht so unverblümt den Gemeinden weitersagen. Dabei würde etwas historische Wahrheit dem Weihnachtsfest keinen Abbruch tun. Denn das wird längst an völlig säkularen Orten geplant und organisiert. Für den Handel ist es der umsatzbringende „Point of Sale“. Und für die Kirchen? Möglicherweise nur noch Denkmäler und Grabsteine Gottes auf Erden, wie es einst Friedrich Nietzsche formulierte.
Foto: Die Heiligen drei Könige in Keller, Die Weihnachtsgeschichte in Schaufensterdekorationen (c) TVZ 2001