Was ein Foto aus dem Fotokarton meines Vaters evoziert, Teil 1/2


Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Von seinen zahlreichen persönlichen Fotos aus dem Zweiten Weltkrieg, die mein Vater in einem kleinen Karton aufbewahrte, faszinierte mich eins besonders:


Drei Männern in hellen Uniformen stehen bzw. sitzen hinter einem Scheinwerfer, der so groß wie ein Fass und schräg in den Himmel gerichtet ist, eingebettet von Sandsäcken und einem Tarnnetz mit Laub und Zweigen. Einer der Männer ist mein Vater. Die Fotografie datiert aus dem Jahr 1942, aufgenommen in der Cyrenaica, dem heutigen Libyen. Der Scheinwerfer ist Teil einer so genannten Flak-Stellung. Da­runter verstand man mehrere Kanonen zum Abschuss feindlicher Bomber und Kampfflugzeuge sowie Scheinwerfer, mit denen in der Dunkelheit der Himmel abgetastet wurde. Es war die Zeit, als in Nordafrika die Schlachten tobten zwischen Deutschland und Italien auf der einen und Großbritannien auf der anderen Seite.

Mein Vater hatte mir nur wenig erzählt, wenn ich ihn beim Betrachten seiner Bilder aus kindlich unbefangener Neugier heraus befragt hatte; denn Kriegserlebnisse zu schildern, war nicht seine Sache. Doch die Männer, die neben ihm auf diesem Foto zu sehen waren, kannte ich. Sie lebten in unserer Vorstadt, stammten von hier, gehörten in die kleine Welt dieses Viertels und ich begegnete ihnen häufiger auf der Straße - und einmal im Jahr zu Weihnachten, am Heiligen Abend, bei uns zu Hause.

Denn es war seit 1951 zur Tradition geworden, dass sich die noch nach dem Krieg befreundeten Männer bei uns am Heiligen Abend trafen; zumeist ab 20:00 Uhr für vier, fünf Stunden. Ich war beim ersten Treffen vier Jahre und fünf Monate alt und kann mich sogar noch daran erinnern - wenn auch nur schemenhaft.

Der familiäre Teil des Heiligen Abends wurde für dieses Kameradentreffen in den späten Nachmittag und in den frühen Abend gelegt. Das war mir wegen der Geschenke immer recht; ich erhielt sie eher und konnte länger mit ihnen spielen.

Nach der Bescherung verkroch sich mein Vater in seinen alten Ohrensessel, schaltete das Radio ein und hörte aufmerksam dem Wunschkonzert zu.

Der Nordwestdeutsche Rundfunk sendete Grüße für Seeleute, die unterwegs auf den Weltmeeren, weit weg von zu Hause, das Weih­nachtsfest verbringen mussten. Über Radio Norddeich wurde die Sendung auf die Ozeane ausgestrahlt. Die Angehörigen hatten sich überwiegend aktuelle Schlager der Zeit, aber auch Volkslieder und Operettenmelodien, ausgesucht. Beliebt waren Rudi Schurickes „Capri-Fischer“ und Hans Albers‘ „La Paloma“, aber auch Titel, die sich des Motivs Fremdenlegion bedienten wie Freddys "Heimweh". Denn es gab bis in die späten 50er Jahre eine nennenswerte Anzahl ehemaliger Wehrmachtssoldaten, die nach dem Krieg in der Heimat nicht mehr Fuß zu fassen vermochten und sich zur Legion gemeldet hatten. Sie kämpften in Indochina und in Algerien für die Sache Frankreichs. Immer wieder berichteten Illustrierte wie „Quick“ oder „Stern“ über die Schicksale dieser Söldner, von denen einige versucht hatten, vorzeitig, und dies bedeutete illegal, die Truppe zu verlassen, was selten gelang. Wer erwischt wurde, dem drohten drakonische Strafen.

Besonders heftige Gefühle löste ein Lied aus der Operette „Der Zarewitsch“ bei meinem Vater aus: „Es steht ein Soldat am Wolgastrand, hält Wache für sein Vaterland“. Beim Erklingen des Wortes Vaterland kommentierte mein Vater desillusioniert „Das Vaterland hat es uns nicht gedankt“.

Manchmal rannen ihm beim Zuhören Tränen innerer Rührung über das Gesicht, gegen die er rasch mit einem Schluck Weinbrand der Marke "Chantré" ankämpfte. Während er, was man ihm ansehen konnte, gedanklich seinen Erinnerungen nachhing, blickte er andächtig auf den dezent mit silberfarbenen Kugeln, einer silberweißen Spitze, weißen Wachskerzen, Lametta und etwas hellem Engelshaar geschmückten Tannenbaum. In der letzten halben Stunde vor dem Eintreffen der Gäste wurde er etwas unruhig. Wenn dann im Radio kein Lied gespielt wurde, das er kannte oder das ihm gefiel, sang er selbst und in diesen Fällen bevorzugt die Verballhornung eines alten Weihnachtslieds: „O Tannenbaum, o Tannenbaum, unser Wilhelm hat in Sack gehau’n...“. Das bezog sich auf die Abdankung Kaiser Wilhelms II am Ende des Ersten Weltkriegs.

Doch dann, in kurzen Abständen hintereinander, trafen die sehnlichst Erwarteten ein: Alfred, Heinrich und Hans. Alle waren sie festlich gekleidet: Dunkelblauer oder dunkelgrauer Anzug, weißes Hemd, Manschettenknöpfe, Krawatte, Hans trug zusätzlich ein Einstecktuch im Sakko. Meine Mutter wurde von jedem in den Arm genommen, man gab Grüße von den anderen Ehefrauen weiter (außer Hans, der unverheiratet war) und erfreute mich mit Scherzen, Kalauern und mit einem kleinen Geschenk: mal war es ein Malbuch, mal eine Wasserpistole, später zumeist ein Quartett-Spiel. Zur Begrüßung gab es Weinbrand. Bevor die Gläser zum Munde geführt wurden, standen sich die Männer, einen Kreis bildend, militärisch stramm gegenüber, salutierten, hielten kurz inne und tranken, nein, sie gossen sich den Alkohol in die Kehle. Dann setzten sie sich und verhielten sich zunächst wie normale Menschen, was heißen soll, dass sie von den Schnittchen, dem Kartoffelsalat und den heißen Würstchen aßen und Bier, zwischendurch auch einen „Klaren“, tranken.
Meine Mutter hingegen war, wie immer, wenn uns Gäste besuchten, in die Rolle der emsigen Hausfrau geschlüpft und hielt sich mit Essen und Trinken zurück. So genoss sie während des langen Abends nur einige Häppchen und ein Glas Wein sowie drei, vier Gläschen Eierlikör. Ich durfte die geleerten Likörgläser später auslecken.

Zum Essen war das besondere, für den Anlass sorgfältig zum Glänzen gebrachte Silberbesteck aufgetragen worden, das selten in Gebrauch war. Es war breiter und länger als unser normales Alltagsbesteck und wies im Griff viele Ornamente auf. Erst als ich fast erwachsen war, erfuhr ich, dass mein Vater und Hans es aus jenem Hotel in Brüssel gestohlen hatten, in dem sie 1940 als Besatzungssoldaten einquartiert gewesen waren.

Als die Kerzen am Baum heruntergebrannt waren, begann der erste Höhepunkt des geselligen Beisammenseins. Jede Kerze wurde durch eine neue ersetzt, die jeweils einem, wie mein Vater und seine Gäste es bezeichneten, ehemaligen Kameraden gewidmet war:

"Soldaten, Kameraden, diese Kerze entzünden wir im Andenken an unseren Oberkommandierenden, Generalfeldmarschall Albert Kesselring!"

Kesselring war der Oberbefehlshaber Süd, dem auch die Truppen in Nordafrika unterstanden hatten. Die Flak-Einheit, in der mein Vater und seine Freunde „dienten“ und in der sie eine Scheinwerferbatterie bildeten, die mein Vater kommandierte, zählte dazu. Für Kesselring wurden mehrere Kerzen angezündet, eine für ihn als Kommandeur, eine weitere für das Ritterkreuz, das ihm verliehen worden war und noch eine dritte für das Eichenlaub mit Schwertern und Brillanten zum Ritterkreuz. Aber diese Hintergründe sind mir erst als älterem Schüler, der sich für die jüngste deutsche Geschichte interessierte, klar geworden.

Der Jagdflieger Werner Mölders, eine Lichtgestalt der Luftwaffe, wurde, obwohl am Afrikafeldzug unbeteiligt, mit zwei Kerzen bedacht. Im Gegensatz dazu erhielt Hermann Göring, Kampfflieger im Ersten Weltkrieg, nur eine, ging aber immerhin nicht leer aus so wie die anderen NS-Größen. Dann folgten weitere Namen angeblich verdienstvoller Militärs, die ich mir aber nicht merken konnte. Während der Zeremonie standen mein Vater und seine Freunde erneut militärisch stramm um den Weihnachtsbaum herum. Als mein Vater als ehemals Ranghöchster dann "Rührt euch" befahl, lockerten die Männer ihre Stellung, bewegten sich im Wohnzimmer, warfen einen Blick nach draußen, nahmen Neuanschaffungen in Augenschein und setzten sich bald wieder an den Esstisch.

Nachdem die alten Soldaten ihre Rituale begonnen hatten, verzog sich meine Mutter auf ihren Stammplatz, auf das Zweiersofa, das in der Ecknische neben dem Wohnzimmerfenster stand. Von dort aus hatte sie eine totale Rundumsicht nach innen und am Tage auch nach draußen. Vermeintlich auf die Zeitschriften der aktuellen Mappe des Lesezirkels „Daheim“ konzentriert, bekam sie vermutlich jedes Wort der alten Kämpfer mit. Ich hingegen verfolgte diese besondere weihnachtliche Gedenkveranstaltung mit vorbehaltloser Neugier aus unmittelbarer Distanz. Direkt neben dem niedrigen Tisch, auf dem der Weihnachtsbaum stand und die Teller mit Süßigkeiten dekorativ platziert waren, hatte ich mich auf dem Fußboden niedergelassen, beschäftigte mich mit meinen Geschenken und beobachtete dabei trotzdem intensiv die Szenerie. Noch als etwas älterer Junge, bis zum neunten Lebensjahr, verfolgte ich das Geschehen aus dieser Position, die der eines Haus­hunds vergleichbar war, der es sich an einem warmen Plätzchen bequem gemacht hatte.

Foto:  Cyrenaika 1942. Links Heinrich, rechts Alfred, stehend hinten der Vater des Verfasser Hugo Mertens (c) Mertens & Medien