Spannende Podiumsdiskussion im Wissenschafts- und Kongresszentrum Darmstadt
Harald Lutz
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Weit verbreitete Meinung ist es, der deutsche Mittelstand sei bei den Zukunftsthemen Digitalisierung und Industrie 4.0 noch sehr zurückhaltend. Ist das wirklich so? Welche Hürden müssen ggf. noch überwunden werden?
Aktuelle Einschätzungen zum Stand der Dinge sowie Anlaufstellen und Partner für mittelständische Unternehmen bot eine mehrtägige Konferenz Mittelstand 4.0 im Wissenschafts- und Kongresszentrum Darmstadt. Einer der Höhepunkte war die spannende Podiumsdiskussion mit Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft.
„Nach meiner Wahrnehmung nimmt der Mittelstand – allen Unkenrufen zum Trotz – in puncto Digitalisierung immer mehr Fahrt auf. Wir dürfen die kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) daher nicht unterschätzen“ – mit dieser Eingangsthese überrascht Professor Dr.-Ing. Reiner Anderl von der TU Darmstadt, Fachgebiet Datenverarbeitung in der Konstruktion, das Fachpublikum und den Moderator gleichermaßen. Der deutsche Mittelstand sei sehr stark und vor allem hoch flexibel: „Die Entscheidungswege sind kurz und werden wesentlich schneller durchlaufen, als wir das von Projekten bei Großunternehmen kennen“, benennt der Hochschullehrer einige der Wettbewerbsvorteile.
„Der Mittelstand trägt auch eine Eigenverantwortung“
Einen zentralen Grund dafür, dass mittelständische Unternehmen „an der einen oder anderen Stelle“ dennoch nicht auf den Zug aufspringen, sieht auch Prof. Anderl in dem bereits bei der Kongresseröffnung von Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries vorgetragenen Argument: Der Mittelstand muss in Zeiten guter Konjunktur vor allem Geld verdienen. „Darüber hinaus tragen KMU aber auch eine Eigenverantwortung dafür, dass sie die Zukunft mitgestalten können“, ergänzt Prof. Anderl.
Gleichwohl erkennt der Hochschullehrer auch einige ‚systemische‘ Hürden: „Wir benötigen viel mehr Fachkräfte, die das Thema Digitalisierung in die mittelständischen Unternehmen tragen und dort umsetzen“, betont der Professor. Ein weiteres Problem sei das Thema Investitionsschutz, das im Mittelstand einen weit größeren Stellenwert einnehme als in der Industrie. Gefordert seien – wie beispielsweise von der Firma Bosch auf der Konferenz vorgetragen – mehr solche konkreten Fallbeispiele mit nachvollziehbaren betriebswirtschaftlichen Daten. Prof Anderl: „Wenn ein Inhaber deutliche fachliche Parallelen zu seiner eigenen Firma sieht und der ROI für das Digitalisierungsprojekt bei lediglich einem Jahr liegt, wird er sich dem technischen Fortschritt kaum verschließen.“
Die Besorgten und die Aufgeschlossenen
Zwei grundsätzlich unterschiedliche Herangehensweisen im Mittelstand an die große Herausforderung Digitalisierung sieht die Geschäftsführerin des Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrums Darmstadt, Siri Adolph. Zum einen gebe es die Beunruhigten und die Besorgten, die mit der Digitalisierung vor allem das Bild einer menschenleeren Fabrik verbinden. Und zum anderen die Aufgeschlossen und sehr Umtriebigen, die bereits konkrete Umsetzungsideen oder gar Projekte angestoßen haben.
„Für die erste Gruppe spielen Emotionen eine sehr große Rolle“, berichtet die Geschäftsführerin aus ihrer Beratungstätigkeit. Die Unternehmen erblickten zunächst die große Herausforderung, die man alleine nicht stemmen oder finanzieren könne.
Gemeinsam mit den mittelständischen Unternehmen arbeitet das Kompetenzzentrum als Teil der Förderinitiative „Mittelstand 4.0 – Digitale Produktions- und Arbeitsprozesse“ an Strategien zur digitalen Transformation der Unternehmensprozesse und wird dabei vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) gefördert. Dabei verfolgen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterschiedliche parallele Ansatzpunkte für den Start, um denjenigen, die noch Unbehagen mit dem Thema Digitalisierung verspüren, die Angst zu nehmen, um Potenziale zu analysieren und konkrete, gangbare Wege aufzuzeigen. Adolph: „So hat beispielsweise die Munsch Chemie-Pumpen GmbH zusammen mit uns jüngst einen internetgestützten Konfigurator für Anschlussbohrungen entwickelt und umgesetzt.“
„Kein Hashtag-zentrierter Ansatz“
Die gewerkschaftliche Haltung zum Thema Digitalisierung – generelle Offenheit, aber keine naive Technikgläubigkeit – vertrat auf dem Podium Jörg Köhlinger, IG-Metall-Bezirksleiter Mitte. Grundtenor: Es gelte sowohl die Chancen als auch die Risiken vernünftig auszutarieren. Speziell für den Mittelstand sieht Köhlinger fünf sog. Restriktionen (siehe ergänzenden Kasten am Ende dieses Artikels).
In Einklang mit den Kongresseingangsstatements des hessischen Ministerpräsidenten, Volker Bouffier, und der Bundeswirtschaftsministerin gehe es bei der Digitalisierung nicht darum, einen „Hashtag-zentrierten“ Ansatz umzusetzen. „Vielmehr muss der Mensch im Mittelpunkt stehen“, postuliert Köhlinger. Wer im Mittelstand oder in der Industrie mit der Digitalisierung und Industrie 4.0 vorankommen wolle, könne dies nicht ohne die Beschäftigten und Arbeitnehmer erreichen. Auch hierfür sei das bereits von mehreren Seiten angesprochene Boschprojekt ein Vorbild.
Godarz Mahbobi, CEO der Axxessio GmbH und Vorstand des gastgebenden Unternehmensnetzwerks IT for Work, betont, dass in Deutschland rund 90 Prozent aller Arbeitsplätze vom Mittelstand abhängen. Damit dass das auch in Zukunft so bleibe, müsse die Herausforderung Digitalisierung positiv aufgenommen und schrittweise umgesetzt werden. Mahbobi: „Nach eineinhalb Jahren sind wir der Auffassung, dass der Mittelstand sehr viel aufmerksamer geworden ist. Erste Schritte werden angegangen...“
Digitalisierung – fünf „Restriktionen“ für den Mittelstand
Bei den Themen Digitalisierung und Industrie 4.0 sieht Jörg Köhlinger, IG-Metall-Bezirksleiter Mitte, speziell für den Mittelstand fünf so genannte Restriktionen:
Kapazitätsengpässe bzw. fehlende Zeit: „In mittelständischen Unternehmen ist die Unternehmensführung oftmals in das operative Geschäft einbezogen und hat keine Kapazitäten, Zeit oder Beratungskapazitäten, um sich das Thema zu erschließen“, analysiert der Gewerkschaftler.
Zu den Restriktionen zählen zweitens auch mögliche finanzielle Engpässe durch zu geringe Eigenkapitalausstattung, weniger Kredite am Kapitalmarkt, unzureichende Investitionstätigkeit in Forschung und Entwicklung etc. Drittens werden die Themen Digitalisierung und Industrie 4.0 vom Mittelstand, so der Bezirksleiter Mitte weiter, oftmals unter dem Aspekt der Renditeerwartung mehr als Kostenfaktor denn als Innovationsfaktor gesehen und angegangen.
Zu geringe Weiterbildungstätigkeit bei bestehenden Belegschaften. Köhlinger: „Wenn wir über Fachkräftemangel sprechen, ist das etwas, das man mittelfristig kommen sehen kann.“ Es herrsche eine zu geringe Ausbildungsbereitschaft in den Unternehmen mit der Folge eines wachsenden Wettbewerbs um qualifizierte Fachkräfte.
Last, but not least gilt als fünfte sog. Restriktion dem Bezirksleiter der IG-Metall die teilweise noch fehlende Infrastruktur für die Digitalisierung sowie noch unklare gesetzliche Rahmenbedingungen dafür, beispielsweise in puncto Datenschutz und Datencloud. / H.L.
Foto:
Titel: Siri Adolph und Jörg Köhlinger diskutieren die Digitalisierung im Mittelstand.
Text: Gäste der Darmstädter Podiumsdiskussion: Professor Dr.-Ing. Reiner Anderl (TU Darmstadt, 2. v. links), Siri Adolph (Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum), Jörg Köhlinger (IG-Metall-Bezirksleiter Mitte) und Godarz Mahbobi (CEO der Axxessio GmbH und Vorstand des Unternehmensnetzwerks IT for Work). Es moderierte: Reinhard Krager, Unternehmenssprecher des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (links außen).
beide Fotos ©Fotografie Klaus Mai
Info:
Nützliche Links:
http://konm40.digital/
www.mit40.de/de
www.igmetall-bezirk-mitte.de
www.it-for-work.de
Autoreninfo: Harald Lutz lebt und arbeitet als Fachjournalist und Technikredakteur in Frankfurt am Main.