Digitalkurs fur SeniorenDamit aus Senioren willfährige Konsumenten werden

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Um den diesjährigen Hessischen Gründerpreis bewirbt sich auch ein Start-up aus Darmstadt mit dem klangvollen Namen Lylu.

Eine junge Frau und drei junge Männer haben eine Software entwickelt, die gängige (!) Webseiten und Apps in der Browseransicht vereinheitlicht und vereinfacht, um Senioren den Einstieg zu ermöglichen. Vor allem den in die Konsumwelt. Die „Frankfurter Rundschau“ war von dieser Idee so überzeugt, dass sie das Projekt am 17. November ausführlich vorstellte. Die Redaktion wählte zur Platzierung sogar die Artikelreihe „Zukunft hat eine Stimme“. Das klang vielversprechend. Doch nach der Lektüre des Artikels „Ganz einfach ins Netz“ habe ich Zweifel. Erstens am tatsächlichen Bedarf nach solchen Hilfsmitteln, zweitens an deren Sinn. Denn das vorgestellte Geschäftsmodell von „Lylu“ erweckt den Eindruck, dass Älteren Nachhilfeunterricht vorrangig beim Online-Shoppen gegeben werden soll. Mutmaßlich, um durch die Vereinheitlichung von Internetelementen den typischen Anbietern, von Amazon bis Zalando, weitere Märkte zu erschließen.

Die Initiatoren von „Lylu“ scheinen bei der Entwicklung ihrer Geschäftsidee kein professionelles Marketing betrieben zu haben. Denn anscheinend ist ihnen nicht klar gewesen, dass die heute 65- bis 85-Jährigen, soweit sie anspruchsvollere berufliche Tätigkeiten ausübten, auf 40 bis 20 Jahre Fachpraxis im Umgang mit elektronischen/digitalen Rechnern und Kommunikationsmedien verweisen können. Ihre tägliche Arbeit sensibilisierte sie zumeist auch für weitere Entwicklungen, von denen einige auch in ihren privaten Bereich Einzug hielten.

Es gibt sicherlich auch Senioren, die früher selten bis nie Kontakte zu elektronischen Rechnern und zur digitalen Kommunikation hatten. Aber für diese Gruppe scheint mir eine systematische Einführung in Theorie und Praxis des Internets wichtiger zu sein als die oberflächliche Beschäftigung mit den Icons, Links und Apps der Online-Giganten. Denn sonst erleben wir bald den digitalen „Enkel-Trick“, auf den in der Regel ein böses Erwachen folgt; konkret der Verlust von sehr viel Geld.

Wegen meines Alters zähle ich theoretisch ebenfalls zur falsch eingeschätzten Zielgruppe. 1970 machte ich die erste Bekanntschaft mit Großrechnern, welche die technische Basis für wissenschaftliche Datenbanken waren. Um 1979/80 wurden uns jungen und jüngeren Menschen die ersten ATARI-Computer angeboten, die auch für die Büroarbeit (Textverarbeitung) nutzbar waren. Per Akustikkoppler plus Telefon konnte man sogar Daten senden und empfangen. Ab 1982/83 gab es den Commodore 64, der noch mehr Möglichkeiten bot und dessen Anwendung erheblich komfortabler war. Im letzten Drittel der 1980er Jahre waren vernetzte PCs angesagt - und sind es bis heute geblieben. Und bevor das Internet in den 1990ern seinen Siegeszug antrat, gab es als Zwischenstufe den Bildschirmtext (BTX), ein Medium, das von Verbänden für ihre Öffentlichkeitsarbeit, aber vor allem vom Versandhandel genutzt wurde. Kurzum: Auch wer heute nicht mehr im Berufsleben steht, hat an der technischen (digitalen) Revolution seinen je eigenen aktiven Anteil gehabt – und nutzt in den meisten Fällen diese vielseitigen Rechner nach wie vor. Und kommt damit weiterhin gut zurecht.

Zweifellos haben viele nach dem Abschied vom Beruf einen Gang zurückgeschaltet. Die Faszination, welche die Digitalisierung anfangs hervorrief, war ohnehin längst einer Nützlichkeitserwägung gewichen. Und das auch, weil sie als Praktiker zwangsläufig ein Gespür für die Gefahren der Online-Kommunikation erworben hatten. Gegenüber kommerziellen Netzen wie Facebook, Instagram und Whatsapp hatten sie eine gesunde Distanz entwickelt, um nicht über den Tisch gezogen zu werden. Die vermeintlich kostenlosen Helfer erweisen sich bis heute als teure Eindringlinge in geschäftliche und private Bereiche.

Diese neuen Alten nutzen das Internet zur Information, recherchieren aber bewusst nicht beim Datenkraken Google, sondern bei Startpage.com, duckduckgo.com oder metager.de. Wenn sie online bestellen, handelt es sich vorzugsweise um Artikel, die im stationären Handel nicht (mehr) angeboten werden.

Doch es ist noch etwas hinzugekommen. Denn immer häufiger reflektieren sie am PC ihr Leben; schreiben Erinnerungen über das Vergangene, stellen digitale Fotoalben zusammen, ordnen Scans von persönlichen und zeitgeschichtlichen Dokumenten oder erfassen die Bände ihrer Bibliothek. Diese kleinpublizistischen Aktivitäten stellen für viele Neuland dar. Hier wären professionelle Tipps sicherlich willkommen.

Aber um zu solcher Einsicht zu gelangen, müssen die jungen Innovativen bereit sein, über den Tellerrand zu blicken und ihr digitales Umfeld als Instrumentarium, aber nicht als Lebensinhalt begreifen. Wirtschaftsexperten schätzen, dass 70 Prozent aller Start-ups, die sich mehrheitlich mit unterschiedlichen Aspekten der Internettechnologie beschäftigen, die von der Corona-Pandemie verursachte Krise nicht überleben werden. Ich mutmaße, dass es auch ohne Corona für sehr, sehr viele ein vorzeitiges Ende geben wird.

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Digitalkurs für Senioren
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