Helmut Schmidts Tod ist ein bedeutender Verlust, aber er muss realistisch bewertet werden

 

Heinz Markert

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Zu Beginn keine rosigen Worte. Die Entwicklung der Bundesrepublik ist seit den frühen Siebziger Jahren durch Abstieg und Niedergang gekennzeichnet. Diese Erkenntnis reifte schon um die Mitte der Siebziger Jahre, als sich die Sockelarbeitslosigkeit verfestigte.

 

Die Gesellschaft wurde mehr und mehr durch eine Politik des Aufgebens der Zivilgesellschaft geprägt, sie wurde von den verantwortlichen Parteien Stück für Stück dem Kapitalismus der von Finanzspekulationenen getriebenen Sorte übergeben. So wurde die Gesellschaft – vielfach so, dass sie es kaum recht wahrnahm, weil die Dimensionen auch so ungeheuerlich sind – verschaukelt, begleitet vom Wortgeklingel um die Globalisierung. Helmut Schmidt hat das in seinen letzten Lebensjahren dann auch erkennen müssen als er anfing, gegen die toxischen Finanzprodukte anzustreiten. Es bedarf in dieser Hinsicht längst einer Inventur, eines Aufarbeitens durch die kritische Geschichtsschreibung, die aber weithin mit Abwesenheit glänzt.

 

Helmut Schmidt hörten wir gerne zu, wenn er seinen persönlichen Entwicklungsrahmen sprengte und parlierend, mit weit gefasstem Horizont, die Weltpolitik erklärte. Seine Stärke war die Außenpolitik und der ganz große Durchblick. Als Politiker mit Format war er noch Gold im Vergleich zu dem heutigen kleinen Geschlecht, dem es an autodidaktischer Eigenbelehrungsmethode mangelt. Aber gleichzeitig wissen wir heute, dass er die Wende zum Finanzkapitalismus mitzuverantworten hat, eine Wende, mit der ab 1982 Kohl durch die Bimbes-Republik die Grenzen zum globalen finanzpolitischen Wildwest weiter auflösen würde. Schmidts Verantwortlichkeit rührt daher, dass er dem System der 'Großen, Reichen und Mächtigen' in Zuneigung und herrscherlicher Verwandtschaft gewogen war. Es ist daher unangebracht, ihn als weise gewordenen Elder Statesman ins Nirwana von Jenseits-von-Gut-und-Böse zu erheben, wie das auch mit Genscher geschieht, der den sozialliberalen Bund löste, was ihm sogar wirtschaftsnähere Vertreter im Land immer noch nachtragen.

 

Helmut Schmidt war der Übergangskanzler zwischen der Ära des Rheinischen Kapitalismus, der auf Ausgleich bedacht war und mit dem Wohlstand-für-alle-Modell glänzte und dem danach durchgepaukten System des Neoliberalismus, mit dem mit Geld immer noch mehr Geld – ohne Bezug zur Realwirtschaft - zu machen versucht wurde, und wird.

 

 

Der Weg in den Abstieg

 

Was Helmut Schmidt noch nicht bewusst war und an ihm vorbeiging: Die Binnengesellschaft wurde seit den Siebziger Jahren in ihrem bewährten Tätigkeitsprofil abwärts gebogen. Die Technologie-Konzerne wurden zunächst schleichend und dann immer offensichtlicher zu Finanzinstrumenten, für deren Lenker es auf Börsen-Kapitalisierung ankam, kaum aber auf Innovationstätigkeit in neue, nachhaltige Produkte, nicht auf Investieren in Arbeit, Wissen, Menschen. Mit dem seit den Siebzigern peu à peu eingefädelten neuen Finanzmarktkapitalismus wurden die Technik-Konzerne zu Spielmarken einer Kapitalrendite-Mentalität, zu Cash-Cows. Nachhaltiges Investieren in „intelligente Produkte“ (Volker Hauff/SPD), in menschliche Arbeit und 'Humankapital', wurde unschick, doof. Gesellschaft wurde abgeblockt.

 

Es entstand ein negativ konnotierter Begriff des geschickt, umsichtig und verantwortungsvoll tätigen Menschen, sei er/sie nun Arbeiter, Ingenieur oder IT-Experte. Zu den Opfern der kollabierten Lehmann Brothers gehörte auch Siemens mit 142 Millionen Dollar (n24-Text 31.12.2009). Finanzgeschäfte nahmen die langfristige, Werte schaffende Realwirtschaft aufs Korn. Diese Entwicklung wurde von der Politik nicht nur begleitet, sondern war von ihr gewollt, damit tat sich ein Abgrund auf: Die Entwertung der Arbeit und die Zerrüttung bzw. Desorientierung der Konzerne, das hatte Helmut Schmidt noch nicht auf dem Radar oder er nahm es als gegeben hin. Aber etwas merken können, hätte er schon. Denn die Leute, die die Systeme innehaben, wussten Bescheid, wohin die Reise geht. Helmut Schmidt war diesen Kreisen leider sehr zugeneigt, vielleicht auch nicht ganz gewachsen.

 

Der Kern der Binnengesellschaft wurde immer mehr ausgehöhlt durch die Praxis der Fusionen und Übernahmen, mit den Ausgründungen und Verkäufen - kurz: dem Hin- und Hergeschiebe von Firmen-Teilen der Technologie-Konzerne. Mit der Implementierung des allseits belobigten angelsächsischen Shareholder-Value-Modells wurden die Konzerne immer mehr zerstört denn neu geschöpft. Sie schlingern jetzt noch immer weiter durch die Gegend. Fatal für das Geschehen war und ist das Phänomen des Kaputt-Umstrukturierens (Rolle vorwärts – Rolle rückwärts), Projekt groß verkünden - dann wieder zurückpfeifen (um den Quartalsabschluss aufzuhübschen und Börsen günstig zu stimmen), manischer Abbau der Kopfzahl (Kopfzahl-Paranoia“/nach Katharina Weinberger) und Kostensenkung/ Einsparen - mithin Kaputtsparen - als Erfolgskriterium sowie Meilenstein! Nicht Qualität, Umweltverträglichkeit und Redlichkeit stehen auf der Agenda, sondern Börsennotierung.

 

Helmut Schmidts Tochter Susanne hat, vom angelsächsischen Erfahrungshintergrund geprägt, die Entwicklungen vor wenigen Jahren, wie aus dem Nähkästchen geplaudert, aus der praktischen Anschauung erklärt. In Erinnerung bleibt ihr Schlagabtausch mit Peer Steinbrück über die fatale Praxis von Private Equity und Hedgefonds, die er verwechselte. Soeben schrieb die FR auf ihrer Titelseite: 'Die nächste Finanzkrise wird durch eine Schattenbank ausgelöst'/nach Aussage des Ökonomen Rudolf Hickel). Diese muss kommen, weil am Scheitelpunkt das Vertrauen der Anleger in die Produkte der Blasen-Ökonomie - auch als 'Innovationen' bezeichnet - zerbricht. Das Finanzvolumen dieser Papiere beträgt 36 Billionen Dollar (FR 13.11.2015).

 

Die Demontage-Runden durch rigiden Lohnabbau hatten über mehr als zwei Dezennien Einnahmeausfälle in den Sozialversicherungssystemen und Staatshaushalten zur Folge, verstärkt durch Fiskaldumping, dem Gesetzesmachwerk, für das Gerhard Schröder exemplarisch in die Geschichte eingeht: Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne, („Deutschland-AG“ mutwillig zerschlagen; überreichliches Geld floss daraufhin in Strömen auf die durch Spekulation getriebenen Kapitalmärkte und in die aufkommende Immobilienblase); Senkung der Körperschaftssteuer für Kapitalgesellschaften; Senkung des Spitzensteuersatzes.

 

Arbeit wird stärker besteuert als Erträge aus Kapitaleinkünften. Ein Steuerbeamter 2002: 'Gerhard Schröder hat sich die Misere seines Haushaltslochs selbst eingebrockt'/bedenke auch den „Steuersong“ von damals. Steuerhinterziehern wurde in Talk-Runden bis zum Fall Hoeneß standardmäßig nachsichtiges Wohlwollen und Verständnis gezollt. Das Gift der Verleumdung der Entrichtung von Steuern, mit denen Gemeinschaftsaufgaben finanziert werden, hat das Modell 'Steueroptimierung' in ganz Europa beflügelt. Diese seit den frühen Siebzigern angeschobenen und absehbaren Entwicklungen hat Helmut Schmidt nicht aufhalten können oder wollen, wenn sie ihm überhaupt klar waren. Er war zu sehr mit den jeweiligen hohen Kreisen verbandelt.

 

 

Helmut Schmidt trat Brandts Reform-Modell beiseite - das Projekt Sozial-ökologische Modernisierung

 

Helmut Schmidt wollte kein Erneuerer sein, er wollte auch nicht an Willy Brandts Modell von „Demokratie wagen“ anknüpfen. Spätestens ab 1973 hätte ein 'Innovationsform-Wechsel' angestanden: weg von fossilen Energieträgern, hin zur Energieeffizienz. Der Wechsel wurde durch die Fossil-, Atom- und Asphaltfraktion der alt-industriell korporierten Parteien hintertrieben, leitete die De-Industrialisierung, das Zerbröseln des Gemeinwesens - einer bewährten Wertschöpfungskette, die aber auch veränderungsbedürftig war - ein. Die wirtschaftliche und politische Elite drehte unter Helmut Schmidt weiter ab, fing an, einer Erneuerung, die angesagt gewesen wäre, abzusagen. Sie tat das aufkommende Interesse an einem Projekt sozial-ökologischer Modernisierung - Ökologie wurde in den Siebzigern zum täglichen Gesprächsthema - ab, obwohl dieses in der Gesellschaft Potentiale gehoben hätte!

 

Helmut Schmidt blieb ein umtriebiger Gefolgsmann des autoritätsfixierten Schlote-, Stahl-, Prestige- und Betonkapitalismus (patriarchalisch, altväterlich, dressurverliebt), dem die SPD noch heute nahesteht (mit Münte, Steinmeier und Funktionsträgern wie Heil und Scholz). Schmidt hat, als er drankam, den Wandel volkstribunartig vereitelt, auch weil er eitel war. Er wollte - wie späterhin Schröder – so gern mit den Großkopferten und Leithammeln - den Weltenlenkern -, zu denen er sich hinzuzuzählen gedachte - bei Tisch in einem Geiste sich zusammenfinden, um im gemeinsamen Austausch von Denksprüchen zu gefallen. Sein Interims-Projekt fiel 1982 an Kohl, den unflätigen Bauchpolitiker, der den habgierig und gemein Gewendeten der neu formierten Finanzmarktszene und der in Vereinigungsseligkeit gewandeten Abgreifmentalität der Nach-Wende-Ära (Beutezug Ost, Frontal21, 14.9.2010), den Weg gebahnt, die Bresche geschlagen hat. Die Zeit der Bimbes-Republik war gekommen.

 

Schmidts Antwort auf die Schwäche der Konjunktur war: ausgeglichene Haushalte und Lohnzurückhaltung. Das war aber keine Lösung – und ist auch heute noch keine -, weil nicht die mangelnde Zurückhaltung der großen Zahl der Arbeitenden das Problem war, sondern das große Umfeld: die eingebrochene Weltkonjunktur und die Petrodollarschwemme mit den hiermit analog gestiegenen Preisen für die Energie. Die Orientierung der Führungsklasse wendete sich von der Realwirtschaft ab und wechselte hinein in immer toxischere Finanzprodukte. Mit diesen wurde mit dem Geld der Kleinen Leute, das diese erwirtschaftet hatten und nicht mehr sahen, im Welt-Geldcasino munter fortgespielt. Was Schmidt abging, war der Instinkt für die Abgründigkeit der herrschenden Klassen und ein Sinn für eine neue, sozial-ökologisch modernisierte Gesellschaft. Aber diese Möglichkeit hat er als Vision abgetan, die den Seelenarzt erfordere.

 

Willy Brandt war der einzig wirklich nachhaltige Gestalter der Bundesrepublik. An seiner Person zeigte sich, wie ein einzelner Mensch durch seine wenigen beschwörenden Redeminuten ein ganzes Land in Bewegung versetzen kann, das die monomane Bosselei isolierter und abgehobener Oligarchen, die selbst nicht wissen wohin, überflüssig macht.