Kirsten Liese
Berlin (Weltexpresso) - Um zu den letzten Dingen vorzudringen, bedarf es bekanntlich an Weisheit, auch an einer gewissen Abgeklärtheit, die sich erst ab einem bestimmten Alter einstellt. Selbst Claudio Abbado kam Gustav Mahler nie zuvor so nahe wie als alter, von schwerer Krankheit gezeichneter Mann.
Unter den noch lebenden großen Mahler-Dirigenten ist wohl Bernhard Haitink mit 88 Jahren der derzeit älteste und genialste. Schon seine physische Konstitution nötigt Bewunderung ab, leitete der Mann aus Amsterdam seine jüngsten Abonnementkonzerte mit den Berliner Philharmonikern doch noch im Stehen.
Mit Mahlers Neunter stand ein sinfonischer Koloss auf dem Programm.
Haitinks spürbar tiefe Verbundenheit mit dem Komponisten zeigte sich vor allem im finalen Adagio. Weltschmerz, Abschied, Trauer, Vergänglichkeit, alles, was diese Sinfonie ausmacht, verdichtete sich da besonders eindrücklich, und stellenweise wurde es da so magisch leise, dass man sich fast schon im Jenseits wähnte. Doch solche ätherischen Gefilde sind auch in diesem Satz umgeben von viel Aufruhr. Besonders das schmerzreiche Motiv, mit dem die tiefen Streicher diesen Satz unisono eröffnen, bohrte sich einem tief in die Magengrube.
Ohrwurmartig ein brannte sich auch der Ländler, den Haitink zum Glück nicht so schnell nahm wie die Dirigier-Jungspunde, so dass er eine wunderbare Elastizität besaß und auch abgestimmt wirkte auf Untertöne des Trügerischen, die die wienerische Harmonie infrage stellen. Erstaunlich, was da auf einmal an Details hörbar wird, etwa eine sagenhafte Aktivität der auf einmal in einen aufgeregten Plapperton verfallenden Fagotte.
Das Blech, insbesondere die Hörner und die bisweilen gestopften, lupenrein intonierenden Trompeten, hatte seine größten Momente im Andante con moto, selbst da, wo sich die Musik kurz ins Grelle wendet, tönt es bei den erstklassigen Bläsersolisten der Berliner noch brillant.
Und wiewohl es in der trotzigen Rondo-Burleske sehr laut zugeht, kam Haitink auf seiner großen musikalischen Reise über anderthalb Stunden in seiner Zeichensprache ohne großes Tamtam aus. Das Chaos ist in diesem gewaltigen, von komplizierten Stimmengeflechten durchdrungenen Satz, gespickt mit ausladenden Tutti, Crescendi und Fortissimo-Passagen gewissermaßen Programm. Am Ende war man fix und fertig.
Ein Abend also, den man so schnell nicht vergisst. Das Publikum dankte mit stehenden Ovationen.
Foto: © berliner-philharmoniker.de