m jeff1ZUR ERINNERUNG AN DEN DIRIGENTEN SIR JEFFREY TATE, Teil 2/2

Wolfgang Mielke

Weltexpresso (Hamburg) - Meine zweite Begegnung mit Jeffrey Tate war neben der natürlich akustischen des Konzerts in der Elbphilharmonie ein deutlicher optischer Eindruck. Ich hatte nichts von der Krankheit gewusst. Es war also überraschend für mich, welchen körperlichen Aufwand er treiben musste, um von der Seite bis ans Dirigentenpult zu gehen. Da die Elbphilharmonie ein weit nach oben hin gestaffelter Raum ist, sah ich ihn und seinen mühsamen Gang von oben. Die optische Wirkung mag das verstärkt haben. Man kann nachlesen, dass Jeffrey Tate von Geburt an unter zwei sich ergänzenden Behinderungen zu litt, nämlich unter Spina bifida, zu Deutsch Wirbelspalt oder zwiegespaltener Wirbel (bi = zwei; fidus = gespalten; spina = Wirbel, Stachel, Dorn, Wirbelsäule) und unter Kyphose (= Buckelbildung). Diese Behinderungen sorgten für einen leicht ruckhaften, vielleicht auch als schleppend zu bezeichnenden Gang, dessen Ursache mir dann erst durch das Nachlesen klar wurde.

Jeffrey Tate wurde trotz oder eben gerade wegen dieser Behinderungen zunächst Arzt; allerdings nicht der Orthopädie, sondern Augenarzt. Tate war am Londoner St. Thomas Hospital tätig, das im 11. oder 12. Jahrhundert in Southark gegründet wurde und nach Thomas Becket (1118 - 1170) benannt wurde, der 1170 durch Chergen Henry's II. (1133 – 1189) in der Kathedrale von Canterbury ermordet wurde, heute sich aber in Lambeth befindet, an der Themse, direkt gegenüber den Houses of Parliament. Dort war Jeffrey Tate mehrere Jahre als Augenarzt tätig. --- Aber gegen Ende der 1960er Jahre muss er schon ein Studium der Musik begonnen haben, am London Opera Center; das mag sich teils überschnitten haben. Seine musikalische Karriere begann er in den 1970er Jahren bei Herbert v. Karajan (1908 - 1989) in Salzburg; und an der Metropolitan Opera in New York bei James Levine (*1943); 1976 war Tate Assistent von Pierre Boulez (1925 – 2016) in Bayreuth anlässlich von Richard Wagners (1813 - 1883) "Ring des Nibelungen", der dann als "Jahrhundert-Ring" in die Musikgeschichte einging. - Damit war also ein sehr glücklicher Start für Jeffrey Tate in die Musikwelt gelungen. Es war folgerichtig, dass Tate dann zunächst Opern-Dirigent an verschiedenen Opernhäusern, auch bei Festivals wurde. --------------------

Am 15.9.2008 begegnete ich in Bern, der Schweizer Hauptstadt, zufällig im Grand Hotel Palace Bellevue der Pianistin Mitsuko Uchida (*1948), die mit Jeffrey Tate mehrere Konzerte eingespielt hat. Über diese Begegnung habe ich in der Perinique-Ausgabe PQ7 ausführlich erzählt. Es war ein sehr schönes Gespräch. Irgendwann kamen wir darauf, dass es in Hamburg kein Spitzenorchester gebe. Christoph Lieben Seutter (*1964), mit dem sie kürzlich gesprochen hatte, habe sich ebenfalls dahingehend geäußert. Das war, bevor Jeffrey Tate die 1957 gegründeten Hamburger Symphoniker 2009 übernahm. Seine große Wirkung erkennt man am leichtesten daran, dass dieses Orchester bereits im Januar 2010 offiziell als A-Orchester anerkannt wurde! --------

Einer seiner Mitarbeiter fasste Jeffrey Tates Wirkung und Leistungen mit den Worten zusammen: "Das war ein doller Mann ... !" - "Doll" ist die umgangssprachlich weichere Form von "toll". Und "toll" meint längst nicht mehr das ursprüngliche "verrückt", wie es sich beispielsweise noch in "tollwütig" erhalten hat, sondern meint hier einen großartigen, bewunderungswürdigen Mann, dessen Leistungen immer wieder überraschten. - Das belegte nicht zuletzt der Konzert-Eindruck in der Elbphilharmonie: Gespielt wurden zwei Konzerte: Zuerst von Erich Wolfgang Korngold (1897 – 1957) das Violinenkonzert in D-Dur op. 35, das zwischen 1937 und 1939 entstand, aber 1945 noch einmal überarbeitert wurde. Den Solopart übernahm die Japanerin Akiko Suwanai (*1972), die dieses Konzert auf der Stradivari "Dolphin" von 1714 spielte, einer der heute berühmtesten Geigen überhaupt, die zuvor Jascha Heifetz (1901 – 1987) gehört hatte, der eben genau dieses Konzert Korngolds 1947 in St. Louis, Missouri, USA, uraufgeführt hatte.

Die Kritiken dieser Uraufführung waren sehr durchwachsen; der damals berühmte Musikkritiker Irving Kolodin (1908 – 1988) schrieb in der "New York Sun", die von 1833 – 1950 erschien, über das Konzertstück: "Mehr Korn als Gold." - Es ist jedenfalls ein anregend-hörenswertes Konzert; und das war es in der Elbphilharmonie auch. - Korngold schrieb vor allem während der 1930er und 1940er Jahre stilbildende Filmmusiken für Hollywood, für die er zwei Oscars erhielt; ausgehend von der Filmmusik für Max Reinhards (1873 – 1943) Verfilmung von Shakespeares (1564 – 1616) "Sommernachtstraum", der eine der berühmtesten Inszenierungen Reinhardts seit 1905 immer wieder gewesen war. 

Nach der Pause dirigierte Sir Jeffrey Edward Elgars 2. Symphonie in Es-Dur op. 63 (1909 – 1911). Elgar (1857 – 1934) hatte mit der Arbeit an dieser Symphonie noch vor einer ersten Symphonie begonnen, sie aber dann zurückgestellt. Beide Symphonien könnte man als jeweilige Gegenstücke zueinander auffassen: Während die erste Symphonie (1908) verhalten beginnt und sich dann nach und nach furios steigert, verhält es sich bei der 2. Symphonie von Edward Elgar genau umgekehrt; - vielleicht ist das auch ein Grund, weshalb diese Symphonie mit den Symphonien Gustav Mahlers (1860 – 1911) verglichen wird. - Den Charakter von Elgars 2. Symphonie, die Elgar selbst als eine "leidenschaftliche Pilgerfahrt der Seele" bezeichnet hat, machen folgerichtig schon die Satzbezeichnungen deutlich: Allegro vivace e nobilmente (= 1. Satz); Larghetto (= 2. Satz); Rondo Presto (= 3. Satz) und Moderato e maestoso (= 4. Satz). - Sir Jeffrey hielt diese Symphonie für eine der wichtigsten des 20. Jahrhunderts; sie beginnt, wie es in Olaf Dittmanns klugem Pressetext heißt, "überschwenglich"; hat dann mit dem 2. Satz ein retardierendes Moment; steigert sich noch einmal wild auf mit dem 3. Satz; und verebbt dann, wie Olaf Dittmann schreibt, "zart resignierend"; man könnte auch sagen: Die Symphonie verschwebt allmählich, löst sich materiell und akustisch fast auf; wird immer zarter, ein Hauch, verweht, wird immer leichter und durchsichtiger. - Das zu hören, so gekonnt dirigiert zu hören, war ein unvergessliches Ereignis. - Der Applaus brandete entsprechend. Man verließ den schönen, plötzlich ebenso leicht wirkenden großen Saal der Elbphilharmonie in angenehmster Stimmung. Und es war auch richtig, danach keine Zugabe mehr zu geben, weil eine fortsetzende Steigerung gar nicht mehr möglich war. ------------

Eine Fortsetzung hätten wir uns nur im Hinblick auf Konzert-Erlebnisse mit Sir Jeffrey Tate gewünscht. Die Nachricht von seinem Tode kam sehr überraschend. Wenn ich an den 2. März 2017 zurückdenke, deutete nichts auf diesen Abschied hin. -

Am 18.6.2017 würdigten die Hamburger Symphoniker ihren ehemaligen Chefdirigenten mit einem Gedenkkonzert in der Hamburger Musikhalle/Laeiszhalle. Und dieses Konzert machte noch einmal die Bedeutung Sir Jeffreys deutlich, nicht nur durch einen hochinteressanten Filmausschnitt seiner Orchester-Arbeit: Eine mit gütiger Beharrlichkeit oder beharrlicher Güte angestrebte Höhenlinie, die zu erreichen eine Vision jenseits der Wirklichkeit voraussetzt; aber auch eine Kraft, diese Vision auch zu vermitteln und durch ein Orchester umsetzen zu lassen. Es hat ein Jahr gedauert, die Hamburger Symphoniker offiziell zu einem A-Orchester zu machen; das ist einerseits ein sehr kurzer Zeitraum, andererseits auch ein Zeitraum, der ganz sicher arbeitsintensiv genutzt wurde. Nicht zuletzt ist das Vertrauen jedes einzelnen Orchestermitglieds in diesen neuen Dirigenten notwendig gewesen, um weiterzugehen, aus sich heraus zu kommen, um sich zu trauen, den als möglich gesehenen und gewünschten Schritt zur Vervollkommnung zu nehmen; Jeffrey Tate ist das gelungen. -

Aber das einmal eingespielte, eingestimmte Orchester, ist, wie ein kostbares Reitpferd, von einem anderen so leicht nicht wieder in diese Höhe zu bringen, auf dieser Höhe zu halten. - Der rumänische Dirigent Ion Marin (*1960) gab sich redlichste Mühe, doch den Höhenflug Sir Jeffreys vermag er nicht herzustellen. Ein bemerkenswerter Vorgang. Ein A-Orchester kann auch nur mit einem A-Dirigenten ein A-Orchester sein; - und bleiben. --- Ein paar Verse aus Schillers (1759 – 1805) Gedicht "Pegasus im Joche" könnten einem hier zu Sir Jeffrey Tate's Arbeit einfallen:

Kaum fühlt das Tier des Meisters sichre hand,
So knirscht es in des Zügels Band
Und steigt, und Blitze sprühn aus den beseelten Blicken,
Nicht mehr das vor'ge Wesen, königlich,
Ein Geist, ein Gott, erhebt es sich,
Entrollt mit einem Mal in Sturmes Wehen
Der Schwingen Pracht, schießt brausend himmelan,
Und eh der Blick ihm folgen kann,
Entschwebt es zu den blauen Höhen.

Was eigentlich wurde an diesem Abend gespielt? Nach Einführungsworten des Aufsichtsratvorsitzenden des Orchesters, Prof. Dr. Burkhard Schwenker (*1958) wird Franz Schuberts Syphomie Nr. 7 h-moll D 759 gespielt, bekannter als "Die Unvollendete"; und sicherlich soll das ein hoffnungsvoller Kommentar zu Jeffrey Tates Leben sein. Es folgt die Trauerrede des Intendanten und Vorstands des Orchesters, Daniel Kühnel (*1973). Es folgt der 4. Satz aus Gustav Mahlers 9. Symphonie D-Dur und anschließend der erwähnte Filmausschnitt über Sir Jeffreys Arbeit. Zwei Partien aus Johann Sebastian Bachs (1685 – 1750) Messe in h-moll BWV 232, nämlich 'Agnus Dei' und 'Dona nobis pacem', mit Petra Lang (*1962) als Altistin, - eigentlich ist sie ein Mezzosopran, umfasst aber offensichtlich ebenfalls die notwendigen Anteile des Alts -, schließt als eine Art Requiem diese würdige Abschiedsfeier zu Sir Jeffrey Tate's Ehren ab. ------------ "Eine Handvoll Staub mein Herz" war schon das Konzert vom 2.3.2017 in der Elbphilharmonie überschrieben; nach einer Gedichtzeile, die Elgar für den 3. Satz seiner 2. Symphonie, den wilden Presto-Satz, verwendet hatte. Das klingt rückblickend schon nach Asche, die im Wind vertreut wird, nach Ende und Begräbnis. Und so fällt es nicht schwer, die in Hamburg geschriebenen Gedicht-Worte von Matthias Claudius (1740 – 1815) zu zitieren, die lauten:

Ach, sie haben
Einen guten Mann begraben,
Und mir war er mehr;
(...)
Wie ein milder Stern aus bessern Welten!

Foto: © symphonikerhamburg.de