Bildschirmfoto 2018 02 03 um 09.19.35DIE SÄNGERIN UND SCHAUSPIELERIN IN DER 'BAR JEDER VERNUNFT'

Wolfgang Mielke

Berlin (Weltexpresso) -  Donnerstag, 25. Januar 2018! Ich bin dabei, meinen Schreibtisch aufzuräumen. Denn schlampig, wie ich bin, haben sich mal wieder einige Türme angesammelt. Ich tröste mich dann jeweils mit einem Ausspruch Albert Einsteins: "Ein voller Schreibtisch ist der Spiegel eines vollen Gehirns. Wofür aber ist wohl ein leerer, aufgeräumter Schreibtisch ein Spiegel?"

Also! Und er hat recht: Denn ich stoße dabei auf eine dünne geklammerte Zeitschrift mit Namen "berliner leben" – und auf ihr ein ganzseitiges Schwarzweiß-Portrait einer Frau, das mich hindert, dieses Heft in den Papierkorb zu werfen. Dazu der Satz: "Berlin lässt einen so, wie man ist." Darunter auch die Erklärung und Auflösung: 'Musical-Star Sophie Berner'. - Es hat also einen Sinn gehabt, dass ich innehielt beim Anblick dieses Titelbildes, denn ich bin gerade mit der Produktion eines Musicals beschäftigt.

wm 1 PURE IMAGINATION 5Natürlich schlage ich die Zeitschrift jetzt auf und lese das Interview mit Sophie Berner. Die Fotos innerhalb des Heftes sind farbig. Sie geben der Künstlerin noch einige Dimensionen mehr. Was mir an diesen Fotos gefällt und weshalb sie mich sofort ansprechen, ist die Verletzlichkeit, die aus diesen Blicken, diesen Handhaltungen, diesem Lächeln spricht. Der Grad der Verletzlichkeit bestimmt den Grad der Schönheit dieser Frau. Das Offene, das Fragen, ihre Scheuheit, aber auch ihre Energie werden spürbar. Und Vergleiche fallen mir ein, Geraldine Chaplin zum Beispiel. - Das Gespräch im Heft dreht sich um die Kraft der Vorstellung: Welche Vorstellung hat ein Publikum von ihr, wenn es in eines ihrer Konzerte geht? Welche Vorstellung hat sie selbst von ihrem jeweiligen abendlichen Publikum? Aber auch die Gefahr und Grenze von Vorstellungen, wenn sie einen belasten können, spielen eine Rolle.

Natürlich ist ein solches Interview auch immer Promotion der eigenen Arbeit. Das Programm von Sophie Berner heißt "Pure Imagination", also so etwas wie "reine, unbehinderte Vorstellungskraft". - Die "Bar jeder Vernunft", – ein schön doppeldeutiger Name, der ein breites Programm-Spektrum erlaubt -, das Spiegelzelt auf dem Parkdeck der ehemaligen West-Berliner Volksbühne, seit Anfang der 1990er Jahre dem Festspielhaus der Berliner Festpiele, wurde bereits während der 1980er Jahre während der Theatertreffen als Treffpunkt zum Feiern und mit Büffett genutzt. 1912 war es in den Niederlanden gebaut worden. Auf der Weltausstellung in Antwerpen, 1930, zum 100jährigen, Bestehen Belgiens, wurde es noch aufgebaut, bevor es dann für über fünfzig Jahre aus der Mode kam. Seit 1992 dient es als die "Bar jeder Vernunft".

wm HPIM9864Zahlreiche namhafte Künstler wie Klaus Hoffmann, Meret Becker, Helen Schneider, Max Raabe, Evelyn Künneke, Helen Vita und Brigitte Mira oder Désirée Nick traten in ihm auf – und heute Abend auch Sophie Berner. Es ist nicht ihr erster Auftritt dort. Im Gegenteil: Die "Bar jeder Vernunft" ist so etwas wie ihre Berliner Heimat-oder besser Erst-Bühne, auf der sie von 2006 an die Sally Bowles im Musical "Cabaret" spielte und sang. - Ihr Programm "Pure Imagination" wurde, wie ich in der kleinen Zeitschrift las, am 20.11.2017 bereits in der "Bar jeder Vernunft" vorgestellt. "Weitere Termine: 24. und 25.1.2018".

Wir haben den 25.1.2018! Und also verpasse ich meinen Zug – und besorge mir stattdessen eine Karte für die heutige, letzte Vorstellung! --- Ich habe es nicht bereut. - Im Gegenteil: Es bleibt etwas haften und wirkt etwas nach; mehrere Tage lang. "Tief in Gedanken, frei von Leidenschaft", heißt es in Shakespeares "Sommernachtstraum". - Sophie Berner wäre eine schlechte Schauspielerin, wenn sie daran etwas zu ändern nicht die Kraft hätte. - Bevor sie auftritt, sieht man einen orangen Luftballon an einer Schnur leicht im Licht der Scheinwerfer hin und her pendeln. Später wird ihn Sophie Berner mit einem spitzen Gegenstand knallend zum Platzen bringen, wobei ein Regen von Silberplättchen sich ergießen wird.

Sie tritt befremdlich auf: Wie eine Erscheinung aus dem Weltraum, in einem hochgeknöpften hellen fast metallisch starr wirkenden gezeichneten Mantel – als eine Erscheinung aus einer anderen Welt. ...pure Imagination, was sonst! - Nach dem Eingangslied legt sie den Mantel ab, trägt ein schwarzes schulterfreies Kleid. - Ihre Band besteht aus dem Pianisten (und Background-Sänger) Nikolai Orloff, der auch für die musikalischen Arrangements zeichnet; dem Gitarristen Daniel Zenke und dem Schlagzeuger Kai Schönburg. Dann sind auf dem Zettel noch vermerkt: Jörn-Felix Alt (Musical Staging), worunter ich mir eine Art Bühnenbild vorstellen kann, das ich jedoch nicht wahrnehmen konnte, oder so etwas wie Choreographie? Dann aber Titus Hoffmann (Regie, die natürlich die Choreographie mit einschließen könnte) und Oliver Hildebrandt (Styling), also Kostümierung und Maskenbildnerei im weitesten Sinne.

Sophie Berner singt Lieder u.a. Von Barbara, Jacques Brel, Edith Piaf, Hermann van Veen, Nancy Sinatra, John Lennon und Dinah Washington. - Ich erkenne nicht alle Lieder, aber alles klingt neu angerichtet und frisch. Mit Schwung. Und leichter Durchsetzungskraft. - Welche Stimmlage singt sie eigentlich? Ihre Sprechstimme, die man in einem kurzen Film-Interview mit dem RBB auf ihrer Webseite hören kann, klingt tragend und nach Alt. Aber die Gesang- und die Sprechstimme können auch ganz konträr ausfallen. Vielleicht sollte man ihre Singstimme als Mezzo-Sopran bezeichnen, weil sie eine Bandbreite hat, die nach oben wie nach unten ausgreifen kann. - In manchen Momenten erinnert sie mich an die junge Hilde Krahl. - Natürlich fallen einem Ähnlichkeiten ein.

Sophie Berner singt Chansons auf Deutsch und auf Englisch; auf Französisch nur Edith Piafs berühmtes Lied "Non, je ne regrette rien". Aber sie singt es ganz anders, als man es von der Piaf zu hören gewöhnt ist: Straffer, durchgehender, wie ein amerikanisches Chanson. - Singt sie auf Englisch ausdrucksvoller oder auf Deutsch? – fragte ich mich, ohne eine Lösung zu finden. Dazu sind die Lieder zu verschieden, dann müsste man wohl ein und das selbe Stück in beiden Sprach-Versionen hören.

wm HPIM9865Die meisten Stücke sind von anspielungsreichem laszivem Inhalt. Sie begleitet sie teils mit einer mechanistisch-dressierten Gestik wie ein Conférencier. Zwischen Tasteninstrument (vom Zuschauer links auf der Bühne) und Schlagzeug (rechts) agiert sie in explosiveren Nummern wie ein Schneidbrenner, wie durch Skylla und Charybdis hindurch; doch sieghaft. Vor allem in einem kurzen Zitat der Sally Bowles zu Beginn des zweiten Konzertteils nach der Pause. - Ich hatte mich gerade mit Marilyn Monroe beschäftigt, die gegen 1946 als Fotomodell entdeckt wurde und sich bis 1949/50 nach allerlei kleinen Veränderungen zur ernst zu nehmenden Schauspielerin entwickelte. Daran wurde ich erinnert.

Sophie Berners Bandbreite ist vielseitig, aber sie ist noch im Werden. Sie ist noch nicht fertig. Birgt noch Entwicklungspotential. Gerade das machte ihr Konzert für mich interessant – und einmalig, weil vergänglich. Sie befindet sich, im übertragenen Sinne gesprochen, noch vor 1950. Darin liegt gegenwärtig ihr größter Reiz. -- "Aussehen ist nicht dein Problem", heißt es in einem Woody-Allen-Film – man darf ihn noch sehen und zitieren, auch wenn DIE ZEIT damit gerade ihre Probleme hat! -- Aber gerade diese Probleme hängen vielleicht mit diesem Satz aus "Whatever works" von 2009 zusammen? -- Die übersteigert dargebotene Laszivität Sophie Berners jedenfalls ist gekonnt einstudiert. Vielleicht als Abwehr. - Es scheint nicht, als habe sie sie nötig.

Gegen Ende singt sie, zunächst nur von der akustischen Gitarre behutsam und zurückgenommen begleitet, ein langsames, stilles Lied. Und man denkt: Davon würde ich gerne mehr hören. Wirklich ihre Ruhe, ihr In-Sich-Ruhen, erleben, ihr Eingeständnis, das Angebot ihrer Verletzlichkeit. Hier liegt ihre Zukunft. Und dann ohne ein bald zu rasch hineinrumpelnd gespieltes Schlagzeug. Da gibt es Stufungen! Das kann man weitaus zarter, besser aufbauen. (Ein Blick auf Ian Paice von Deep Purple wäre da hilfreich!) 

Und so bleibt es ein interessantes Konzert, ergänzt, aufgelockert, bereichert durch einige, teils spontane, spontan gefärbte Unterhaltungen mit dem Publikum; sympathisch. - Und sympathisch frei von Allüren. Verletzlich. - Die kleine Zeitschrift, in der ich Sophie Berner entdeckt habe, trägt den Untertitel: "Magazin für Stadtgenießer". Besser kann man es hier nicht ausdrücken. Darin äußert Sophie Berner die Befürchtung: "Ich glaube nicht, dass mich schon viele Leute kennen." Denn sie tritt nicht nur in Berlin, sondern an vielen mittleren deutschsprachigen Bühnen und auch im Ausland auf. So vermutet sie ihr Publikum verstreut, nicht zusammenhängend. - Es würde mich freuen, daran etwas ändern zu können.

Fotos:
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Info:
https://www.bar-jeder-vernunft.de/de/programm/programmuebersicht/sophie-berner.html .)