Wolfgang Mielke
Hamburg (Weltexpresso) - Der Ausdruck "Wendefenster", der auch den Titel des Konzerts bildet, wird im Programmheft von Olaf Dittmann und Nils Szczepanski in deren lesenswertem Text zum Konzert verwendet.
Er bezieht sich aber nicht auf die politische Wende von 1989/90, wie man vielleicht denken könnte, - wobei er dies dann auch wesentlich nur bezogen auf das 3. Konzertstück des Abends, Dimitri Schostakowitschs (1906 – 1975) letzte Symphonie Nr. 15 A-Dur op. 141, tun könnte, sondern beschreibt einfach ein Bauelement: Ein Fenster, das weitestgehend frei drehbar ist. Der Vergleich soll die Interpretationsweite der vorgetragenen Konzertstücke deutlich machen: Ihre Vielfalt; nicht, negativ gesehen, ihre Richtungslosigkeit.
Die drei Stücke heißen: Richard Wagners (1813 – 1883) Vorspiel zu der Oper "Tristan und Isolde"; Béla Bartóks (1881 – 1945) Klavierkonzert Nr. 3 Sz 119; und die bereits erwähnte Symphonie von Schostakowitsch.
Es spielen die Symphoniker Hamburg. Das Orchester wird von dem lettischen Dirigenten Andris Poga (*1980) geleitet.
Die ersten Klänge des Vorspiels zu "Tristan und Isolde" lassen aufhorchen; allerdings versickert die Aufmerksamkeit dann rasch. Wenn ich in ein Konzert gehe, erwarte ich das Außergewöhnliche; das ganz Besondere. Die Symphoniker Hamburg haben seit dem Tod und Verlust ihres genialen Dirigenten Sir Jeffrey Tate (1943 – 2917), der dieses Orchester an die Spitze brachte, an Rang verloren. Und was würde Sir Jeffrey Tate mehr ehren als das? Aber Andris Poga führt es doch oft über den Durchschnitt hinauf. Oft, nicht durchweg. Fehlt die Spannung, meldet sich sofort die Müdigkeit; die immer recht hat. Man hört noch genau zu, hat aber den Wunsch, das lieber mit geschlossenen Augen zu tun. Man hört genau zu, aber für Bruchteile von Sekunden fühlt man, dass man wegsackt. Manchmal meldet sich auch nur ein Schmerz unter der Schädeldecke, der sich, in Längsrichtung, entlangzieht. - Aber: Wo die Spannung da ist, ist man sofort hellwach!! - Natalia Levi Ginzburg (1916 – 1991) klagte darüber, dass sie häufig in Konzerten entweder mit ihren Gedanken weit abschweifte oder einschlief. Es ist also ein Problem, das nicht nur die Symphoniker Hamburg betrifft, sondern immer dann auftritt, wenn nicht besonders gespielt wird, sondern standard-mäßig.
So auch im Wagnerschen Vorspiel zu seiner Liebesoper. Der Spannungsaufbau gelingt schön, - aber er wirkt zu äußerlich. Das heißt: Die Tempi und dynamischen Forderungen des Komponisten werden getreu nachgespielt und gut erfüllt; aber es fehlt an innerer Spannung, die erst die Voraussetzung der notierten Spannungsverhältnisse gewesen ist. So in der Kompositon. In der Wiedergabe muss natürlich der umgekehrte Weg gegangen werden: Von außen nach innen; vom Gerüst in die Seele hinein. - Hinzu kommt eine andere Gefahr: Das gelegentliche Abrutschen in die Nähe eines Kurkonzertes. Auch das ist nicht nur ein Phänomen der Symphoniker Hamburg. Aber es gibt Orchester und Konzerte, in denen diese Gefahr nicht auftaucht. Bei Sir Jeffrey war sie nicht vorhanden. Dafür fehlt hier die Gefahr eines zu trockenen, akademischen Spiels. - Jedes Konzert ist also immer; immer eine Gratwanderung.
Dann Umbau: Ein Flügel wird hereingeschoben, die Gruppierung des Orchesters entsprechend angepasst für Bartóks Klavierkonzert Nr. 3. Die Solistin ist Elena Bashkirova (*1958). Ich hatte mich am Abend zuvor mit ihr (über YouTube) vertraut gemacht. Ihr Klavierspiel gefiel mir; ihr Anschlag ausgewogen und kultiviert. Sie selbst wird man wahrscheinlich am richtigsten gleichwohl als eine Interpretin aus der zweiten Reihe beschreiben müssen, die aber, - oder vielleicht deswegen? -, sonderbarer Fall, jeweils mit Musikern aus der ersten Reihe verheiratet war und ist: Mit Gidon Kremer ('1947) und mit Daniel Barenboim (*1942), mit dem sie die beiden Söhne David (*1983, Produzent und Songwriter) und Michael (*1985, Violonist) hat. 1998 hat sie das International Jerusalem Chamber Music Festival gegründet, das jeweils im September stattfindet und das sie auch leitet.
Ich hörte das Konzert am Abend zuvor in einer Aufnahme zunächst mit Sir András Schiff (*1953), da aber nur wenige Takte, weil es mich nicht überzeugte; und dann gespielt von Hélène Grimaud (*1969). - Nun also die Interpretation mit Elena Bashkirova. Irgendjemand stellte die Forderung auf, in der Kunst dürfe es keine toten Momente geben. Immer wieder muss es neu sein, eine Entdeckung. Das ist für ausführende, nachschöpfende Künstler, und erst recht im Tagwerk von Wiederholungen, keine leicht zu erfüllende Forderung. Klischee oder nicht: Immer wieder hat es um Leben oder Tod zu gehen, und wieviel mehr hier bei Bartók, dessen Krankheit, - Leukämie -, ihm kaum noch Spielraum erlaubte. Man hört zu wenig davon. Unterforderung ist die Folge. Gnadenlos melden sich sofort Anflüge von Müdigkeit. Man hört angestrengt zu. Der Kredit, den man ja im voraus gegeben hat, kommt einem hart zu stehen. - "Über einem Sechzehntel-Ostinato der Streicher spielt das Klavier im ersten Satz das rhythmisch abwechslungsreich gestaltete erste Thema." Das heißt, ein pochender Grundrhythmus muss immer hörbar bleiben, ein drängender Pulsschlag, der zur Eile treibt. - Der zweite (langsame) Satz ist überschrieben mit: "Adagio religioso"; das Jenseits klingt also an. Bei einem Todkranken nicht verwunderlich. Aber von diesem Vortasten in die Religion, in die durch Religion trostvoll gemachte Jenseitigkeit, hört man zu wenig; es überträgt sich nicht. - Es bleibt ein guter Standard, aber das Besondere fehlt; trotz der Steigerung am Ende; der Kampf ums Überleben und damit das Wichtigste fehlt.
Das Hamburger Publikum jubelt – (aber nicht wirklich entzündet und begeistert).
Elena Bashkirova spielt noch eine kurze Zugabe, die sie selbst, sympathisch, ansagt, ein Stück von Dvorak, ein spitzes, witziges Stück, - ich dachte an Pinocchios Nase -, dessen Titel ich aber nicht verstehen konnte. Darin gibt es einen Moment der Verlangsamung des Tons, vielleicht nur drei-vier Takte, dem man weiter folgen möchte. Hier wäre ein Moment, einzugreifen. Hier wäre ein Moment, dem nachzugehen, eine eigene Entdeckung zu machen; aber es findet nicht statt. Die Noten 'erlauben' es nicht; nicht der Konzertablauf. Jedes Konzert sollte jedoch die Möglichkeit haben, hier innezuhalten; solche Momente zu nutzen. Denn hier läge die Möglichkeit, das metrische Abliefern zu unterbrechen, aufzubrechen, zu aufregenden Entdeckungen zu kommen, - vielleicht auch nur aufregend deshalb, weil hier zur Entdeckung aufgebrochen wird? -, neue Räume zu öffnen. - Vielleicht, denn jeder Interpret ist Nach-Schöpfer, nicht ursprünglicher Schöpfer, hätte hier aber schon eine kurze Zäsur genügt, ein Zeigen, dass man es begriffen hat, bescheiden, nur mitteilend, nicht selbst den Weg in neue Räume gehend ...
Nach der Pause: Schostakowitsch. Oder besser: Schostakowitsch! Das ganze Konzert entwickelt sich zu einer Einheit, deren Höhepunkt dieses Konzert wurde, vor allem sein erster, aufreißender Satz. Sofort ist man hellwach! - Alle Müdigkeit verflogen! - Nach dem ersten erfrischenden Satz applaudieren Teile des Publikums. Ich falle mit ein. Auch wenn ich weiß, - höre -, das kann noch besser sein. Aber das wenigstens ist zu hören. Das Orchester greift immer wieder erfreuend nach oben aus. Das liegt auch daran, dass Schostakowitsch viele Solo-Partien in seine Symphonie eingefügt hat: In solchen Momenten sind also Musiker solo zu hören, die sonst meist im Gesamt-Klang des Orchesters verbleiben. Das weckt die Spiellust, den Ehrgeiz, erfordert intensiveres Üben. In diesen Solopartien kann man sich nicht auf seine Nachbarn verlassen. Allein dadurch kommt Belebung in das Konzerthaus, Leben, zu bewältigende Gegenwart. - Der kurze Zwischenapplaus nach dem Satz als Bestätigung des richtigen Weges, hätte vielleicht, dachte ich, anspornende Wirkung auch für das Kommende ... - Aber der zweite Satz gerät doch etwas müde. "Nicht einschlafen, bitte, zwischendurch" steht auf meinem Zettel, "Ihr seid keine Pensionskasse!" (Das ist keine Frage des Tempos, um nicht mißverstanden zu werden, sondern der Intensität.) - Bartók kämpfte gegen seine tödliche Krankheit an; Schostakowitsch nicht nur gegen ein Herzleiden, das ihn zwang, einen Teil seiner Symphonie im Krankenhaus zu schreiben, sondern auch gegen die einengenden Vorgaben seines sozialistischen Vaterlandes, der Parteiendiktatur Russlands, der UdSSR. Hier also auch immer wieder die Kunst gegen das öd-alltägliche Leben gestemmt. Jeder Ton muss der Versuch sein, die schikanöse Wirklichkeit durch die Großartigkeit der Kunst zu verdrängen. Mit dieser Dringlichkeit muss gespielt werden! Woody Allen (*1935) lässt in seinem neuesten Film "A Rainy Day in New York" sagen: "Realität ist was für Leute, die nichts Besseres hinbekommen!" Hier oft zu viel "Realität". Dabei scheint das Orchester zu noch mehr fähig zu sein. (Es wird nur nicht abgerufen.)
Im 3. Satz gibt es aufregende konzertante Stellen: Instrumente und Orchestergruppen werden durch den Komponisten in gegenseitige Gespräche, Streit, Auseinandersetzungen, Gegenüberstellungen gesetzt. Auf dem Zettel steht: "Alles zu zaghaft." Da gibt es eine großartige Stelle, in der die Bratsche opponiert. Und fordert! Einfordert! Auch hier: Wirklich einfordern! Stärker; nicht nur den Text wiedergeben. Da wäre mehr möglich: Diesem Orchester.
Schostakowitsch geht ja mit List in dieser Symphonie mit seinen kommunistischen Widersachern um: Er fügt gezielt romantische, ja, volkstümliche, um nicht zu sagen volkstümelnde Partien in seine Sätze ein – und genügt damit vaterländischen Forderungen. Dann zitiert er mehrfach, im 1. Satz, das Hauptmotiv aus Giacchomo Rossinis (1792 – 1868) letzter Oper "Guillaume Tell" ("Wilhelm Tell", nach Schiller (1759 – 1895)). ((Rossini schrieb zwischen 1809 und 1829 durchschnittlich zwei Opern pro Jahr, die meist auch im selben Jahr schon uraufgeführt wurden.)) - Was will Schostatkowitsch mit diesem "Wilhelm Tell" – Zitat sagen? Dass er selbst in dieser Symphonie gleichsam ein Wilhelm Tell sei, der seinen sadistischen Widersacher Geßler mit seiner Armbrust niederstreckt? Oder will er sich zu diesem Verhalten nur immer wieder in diesem seinem schnellen ersten Satz anstacheln? - Das bleibt offen, aber man nimmt es mit nach Hause. - Ebenso nimmt man das ausklingende Ende mit nach Hause, das blechern-ausklingende Ende. Im Programmheft heißt es: "Doch das Ende ist unheimlich: Die Tonalität verschwimmt, das Schlagwerk klappert wie im Totentanz." - Man könnte auch von einem 'klappernden Herzen' sprechen, dem Schostakowitsch immer wieder angstvoll nachzulauschen hatte. - Und: "So bleibt uns Zuschauern (...) ein Schrecken in den Knochen." ----- So gut ist die Aufführung nicht; aber man kann nachvollziehen, was beabsichtigt ist, und das ist denn auch schon mehr, als manch andere Konzerte bieten.
Fotos:
©
Info:
Das Konzert fand am 26.1.2020, 19 Uhr, in der Hamburger Musikhalle statt.
Hamburg (Weltexpresso) - Der Ausdruck "Wendefenster", der auch den Titel des Konzerts bildet, wird im Programmheft von Olaf Dittmann und Nils Szczepanski in deren lesenswertem Text zum Konzert verwendet.
Er bezieht sich aber nicht auf die politische Wende von 1989/90, wie man vielleicht denken könnte, - wobei er dies dann auch wesentlich nur bezogen auf das 3. Konzertstück des Abends, Dimitri Schostakowitschs (1906 – 1975) letzte Symphonie Nr. 15 A-Dur op. 141, tun könnte, sondern beschreibt einfach ein Bauelement: Ein Fenster, das weitestgehend frei drehbar ist. Der Vergleich soll die Interpretationsweite der vorgetragenen Konzertstücke deutlich machen: Ihre Vielfalt; nicht, negativ gesehen, ihre Richtungslosigkeit.
Die drei Stücke heißen: Richard Wagners (1813 – 1883) Vorspiel zu der Oper "Tristan und Isolde"; Béla Bartóks (1881 – 1945) Klavierkonzert Nr. 3 Sz 119; und die bereits erwähnte Symphonie von Schostakowitsch.
Es spielen die Symphoniker Hamburg. Das Orchester wird von dem lettischen Dirigenten Andris Poga (*1980) geleitet.
Die ersten Klänge des Vorspiels zu "Tristan und Isolde" lassen aufhorchen; allerdings versickert die Aufmerksamkeit dann rasch. Wenn ich in ein Konzert gehe, erwarte ich das Außergewöhnliche; das ganz Besondere. Die Symphoniker Hamburg haben seit dem Tod und Verlust ihres genialen Dirigenten Sir Jeffrey Tate (1943 – 2917), der dieses Orchester an die Spitze brachte, an Rang verloren. Und was würde Sir Jeffrey Tate mehr ehren als das? Aber Andris Poga führt es doch oft über den Durchschnitt hinauf. Oft, nicht durchweg. Fehlt die Spannung, meldet sich sofort die Müdigkeit; die immer recht hat. Man hört noch genau zu, hat aber den Wunsch, das lieber mit geschlossenen Augen zu tun. Man hört genau zu, aber für Bruchteile von Sekunden fühlt man, dass man wegsackt. Manchmal meldet sich auch nur ein Schmerz unter der Schädeldecke, der sich, in Längsrichtung, entlangzieht. - Aber: Wo die Spannung da ist, ist man sofort hellwach!! - Natalia Levi Ginzburg (1916 – 1991) klagte darüber, dass sie häufig in Konzerten entweder mit ihren Gedanken weit abschweifte oder einschlief. Es ist also ein Problem, das nicht nur die Symphoniker Hamburg betrifft, sondern immer dann auftritt, wenn nicht besonders gespielt wird, sondern standard-mäßig.
So auch im Wagnerschen Vorspiel zu seiner Liebesoper. Der Spannungsaufbau gelingt schön, - aber er wirkt zu äußerlich. Das heißt: Die Tempi und dynamischen Forderungen des Komponisten werden getreu nachgespielt und gut erfüllt; aber es fehlt an innerer Spannung, die erst die Voraussetzung der notierten Spannungsverhältnisse gewesen ist. So in der Kompositon. In der Wiedergabe muss natürlich der umgekehrte Weg gegangen werden: Von außen nach innen; vom Gerüst in die Seele hinein. - Hinzu kommt eine andere Gefahr: Das gelegentliche Abrutschen in die Nähe eines Kurkonzertes. Auch das ist nicht nur ein Phänomen der Symphoniker Hamburg. Aber es gibt Orchester und Konzerte, in denen diese Gefahr nicht auftaucht. Bei Sir Jeffrey war sie nicht vorhanden. Dafür fehlt hier die Gefahr eines zu trockenen, akademischen Spiels. - Jedes Konzert ist also immer; immer eine Gratwanderung.
Dann Umbau: Ein Flügel wird hereingeschoben, die Gruppierung des Orchesters entsprechend angepasst für Bartóks Klavierkonzert Nr. 3. Die Solistin ist Elena Bashkirova (*1958). Ich hatte mich am Abend zuvor mit ihr (über YouTube) vertraut gemacht. Ihr Klavierspiel gefiel mir; ihr Anschlag ausgewogen und kultiviert. Sie selbst wird man wahrscheinlich am richtigsten gleichwohl als eine Interpretin aus der zweiten Reihe beschreiben müssen, die aber, - oder vielleicht deswegen? -, sonderbarer Fall, jeweils mit Musikern aus der ersten Reihe verheiratet war und ist: Mit Gidon Kremer ('1947) und mit Daniel Barenboim (*1942), mit dem sie die beiden Söhne David (*1983, Produzent und Songwriter) und Michael (*1985, Violonist) hat. 1998 hat sie das International Jerusalem Chamber Music Festival gegründet, das jeweils im September stattfindet und das sie auch leitet.
Ich hörte das Konzert am Abend zuvor in einer Aufnahme zunächst mit Sir András Schiff (*1953), da aber nur wenige Takte, weil es mich nicht überzeugte; und dann gespielt von Hélène Grimaud (*1969). - Nun also die Interpretation mit Elena Bashkirova. Irgendjemand stellte die Forderung auf, in der Kunst dürfe es keine toten Momente geben. Immer wieder muss es neu sein, eine Entdeckung. Das ist für ausführende, nachschöpfende Künstler, und erst recht im Tagwerk von Wiederholungen, keine leicht zu erfüllende Forderung. Klischee oder nicht: Immer wieder hat es um Leben oder Tod zu gehen, und wieviel mehr hier bei Bartók, dessen Krankheit, - Leukämie -, ihm kaum noch Spielraum erlaubte. Man hört zu wenig davon. Unterforderung ist die Folge. Gnadenlos melden sich sofort Anflüge von Müdigkeit. Man hört angestrengt zu. Der Kredit, den man ja im voraus gegeben hat, kommt einem hart zu stehen. - "Über einem Sechzehntel-Ostinato der Streicher spielt das Klavier im ersten Satz das rhythmisch abwechslungsreich gestaltete erste Thema." Das heißt, ein pochender Grundrhythmus muss immer hörbar bleiben, ein drängender Pulsschlag, der zur Eile treibt. - Der zweite (langsame) Satz ist überschrieben mit: "Adagio religioso"; das Jenseits klingt also an. Bei einem Todkranken nicht verwunderlich. Aber von diesem Vortasten in die Religion, in die durch Religion trostvoll gemachte Jenseitigkeit, hört man zu wenig; es überträgt sich nicht. - Es bleibt ein guter Standard, aber das Besondere fehlt; trotz der Steigerung am Ende; der Kampf ums Überleben und damit das Wichtigste fehlt.
Das Hamburger Publikum jubelt – (aber nicht wirklich entzündet und begeistert).
Elena Bashkirova spielt noch eine kurze Zugabe, die sie selbst, sympathisch, ansagt, ein Stück von Dvorak, ein spitzes, witziges Stück, - ich dachte an Pinocchios Nase -, dessen Titel ich aber nicht verstehen konnte. Darin gibt es einen Moment der Verlangsamung des Tons, vielleicht nur drei-vier Takte, dem man weiter folgen möchte. Hier wäre ein Moment, einzugreifen. Hier wäre ein Moment, dem nachzugehen, eine eigene Entdeckung zu machen; aber es findet nicht statt. Die Noten 'erlauben' es nicht; nicht der Konzertablauf. Jedes Konzert sollte jedoch die Möglichkeit haben, hier innezuhalten; solche Momente zu nutzen. Denn hier läge die Möglichkeit, das metrische Abliefern zu unterbrechen, aufzubrechen, zu aufregenden Entdeckungen zu kommen, - vielleicht auch nur aufregend deshalb, weil hier zur Entdeckung aufgebrochen wird? -, neue Räume zu öffnen. - Vielleicht, denn jeder Interpret ist Nach-Schöpfer, nicht ursprünglicher Schöpfer, hätte hier aber schon eine kurze Zäsur genügt, ein Zeigen, dass man es begriffen hat, bescheiden, nur mitteilend, nicht selbst den Weg in neue Räume gehend ...
Nach der Pause: Schostakowitsch. Oder besser: Schostakowitsch! Das ganze Konzert entwickelt sich zu einer Einheit, deren Höhepunkt dieses Konzert wurde, vor allem sein erster, aufreißender Satz. Sofort ist man hellwach! - Alle Müdigkeit verflogen! - Nach dem ersten erfrischenden Satz applaudieren Teile des Publikums. Ich falle mit ein. Auch wenn ich weiß, - höre -, das kann noch besser sein. Aber das wenigstens ist zu hören. Das Orchester greift immer wieder erfreuend nach oben aus. Das liegt auch daran, dass Schostakowitsch viele Solo-Partien in seine Symphonie eingefügt hat: In solchen Momenten sind also Musiker solo zu hören, die sonst meist im Gesamt-Klang des Orchesters verbleiben. Das weckt die Spiellust, den Ehrgeiz, erfordert intensiveres Üben. In diesen Solopartien kann man sich nicht auf seine Nachbarn verlassen. Allein dadurch kommt Belebung in das Konzerthaus, Leben, zu bewältigende Gegenwart. - Der kurze Zwischenapplaus nach dem Satz als Bestätigung des richtigen Weges, hätte vielleicht, dachte ich, anspornende Wirkung auch für das Kommende ... - Aber der zweite Satz gerät doch etwas müde. "Nicht einschlafen, bitte, zwischendurch" steht auf meinem Zettel, "Ihr seid keine Pensionskasse!" (Das ist keine Frage des Tempos, um nicht mißverstanden zu werden, sondern der Intensität.) - Bartók kämpfte gegen seine tödliche Krankheit an; Schostakowitsch nicht nur gegen ein Herzleiden, das ihn zwang, einen Teil seiner Symphonie im Krankenhaus zu schreiben, sondern auch gegen die einengenden Vorgaben seines sozialistischen Vaterlandes, der Parteiendiktatur Russlands, der UdSSR. Hier also auch immer wieder die Kunst gegen das öd-alltägliche Leben gestemmt. Jeder Ton muss der Versuch sein, die schikanöse Wirklichkeit durch die Großartigkeit der Kunst zu verdrängen. Mit dieser Dringlichkeit muss gespielt werden! Woody Allen (*1935) lässt in seinem neuesten Film "A Rainy Day in New York" sagen: "Realität ist was für Leute, die nichts Besseres hinbekommen!" Hier oft zu viel "Realität". Dabei scheint das Orchester zu noch mehr fähig zu sein. (Es wird nur nicht abgerufen.)
Im 3. Satz gibt es aufregende konzertante Stellen: Instrumente und Orchestergruppen werden durch den Komponisten in gegenseitige Gespräche, Streit, Auseinandersetzungen, Gegenüberstellungen gesetzt. Auf dem Zettel steht: "Alles zu zaghaft." Da gibt es eine großartige Stelle, in der die Bratsche opponiert. Und fordert! Einfordert! Auch hier: Wirklich einfordern! Stärker; nicht nur den Text wiedergeben. Da wäre mehr möglich: Diesem Orchester.
Schostakowitsch geht ja mit List in dieser Symphonie mit seinen kommunistischen Widersachern um: Er fügt gezielt romantische, ja, volkstümliche, um nicht zu sagen volkstümelnde Partien in seine Sätze ein – und genügt damit vaterländischen Forderungen. Dann zitiert er mehrfach, im 1. Satz, das Hauptmotiv aus Giacchomo Rossinis (1792 – 1868) letzter Oper "Guillaume Tell" ("Wilhelm Tell", nach Schiller (1759 – 1895)). ((Rossini schrieb zwischen 1809 und 1829 durchschnittlich zwei Opern pro Jahr, die meist auch im selben Jahr schon uraufgeführt wurden.)) - Was will Schostatkowitsch mit diesem "Wilhelm Tell" – Zitat sagen? Dass er selbst in dieser Symphonie gleichsam ein Wilhelm Tell sei, der seinen sadistischen Widersacher Geßler mit seiner Armbrust niederstreckt? Oder will er sich zu diesem Verhalten nur immer wieder in diesem seinem schnellen ersten Satz anstacheln? - Das bleibt offen, aber man nimmt es mit nach Hause. - Ebenso nimmt man das ausklingende Ende mit nach Hause, das blechern-ausklingende Ende. Im Programmheft heißt es: "Doch das Ende ist unheimlich: Die Tonalität verschwimmt, das Schlagwerk klappert wie im Totentanz." - Man könnte auch von einem 'klappernden Herzen' sprechen, dem Schostakowitsch immer wieder angstvoll nachzulauschen hatte. - Und: "So bleibt uns Zuschauern (...) ein Schrecken in den Knochen." ----- So gut ist die Aufführung nicht; aber man kann nachvollziehen, was beabsichtigt ist, und das ist denn auch schon mehr, als manch andere Konzerte bieten.
Fotos:
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Info:
Das Konzert fand am 26.1.2020, 19 Uhr, in der Hamburger Musikhalle statt.