Musik im Film
Kirsten Liese
Berlin (Weltexpresso) - Schon so manche herrliche Musik habe ich im Kino entdeckt. Das Adagietto aus Mahlers Fünfter in dem Klassiker „Tod in Venedig“ (1971) zählt ebenso dazu wie die Arie des Frost aus Henry Purcells „King Arthur“ in Ariane Mnouchkines dreistündigem Epos „Molière“ (1978), das Andante con moto aus Schuberts Klaviertrio op.100 in Kubricks „Barry Lyndon“ (1975) oder Brahms‘ B-Dur-Sextett in Louis Malles‘ Drama „Die Liebenden“ (1958).
Auch zwei der schönsten Arien von Georg-Friedrich Händel sind durch das Kino tief in mein Bewusstsein gedrungen: „Ombra mai fu“ aus der Oper „Xerxes“ in Stephen Frears „Gefährlichen Liebschaften“ (1988) und „Lascia ch‘io pianga“ in dem Porträt des Kastraten „Farineli“ (1994).
In allen diesen Filmen unterstreicht die Musik deren hohen künstlerischen Anspruch, will heißen, sie wirkt seitens Atmosphäre, Zeitkolorit und Emotionen exakt abgestimmt auf Handlung und Bilder. In einigen ist sie sogar Teil der Handlung selbst. In Viscontis Adaption von Thomas Manns gleichnamiger Erzählung wird die Musik in ihrer Bedeutsamkeit sogar zu einem indirekten Hauptdarsteller, sagen doch Mahlers elegisch-sehnsuchtsvolle Klänge mehr über das Seelenleben des Protagonisten Gustav Aschenbach in seiner unerfüllten, platonischen Liebe zu einem heranwachsenden jungen Mann als die sparsamen Dialoge.
Die Klassik bildet freilich nur ein kleines Segment in der Filmmusik, die in all ihren Facetten ein so riesiges Gebiet ist, dass ich mich auf ein paar Schlaglichter beschränke, um nicht den Fehler zu begehen wie Matt Schrader in seiner oberflächlichen Doku „Score- Eine Geschichte der Filmmusik“ (2017). Von einer „Geschichte“ konnte da nicht die Rede sein, ging es doch weitgehend nur um Hollywood-Blockbuster wie „Herr der Ringe“ oder „ E.T. – Der Außerirdische“.
Am Umgang mit Musik im Film zeigt sich für mich die künstlerische Qualität. Vielleicht kennen Sie das: Sie sitzen im Kino, der Vorspann beginnt mit Musik, und Sie haben schon nach wenigen Minuten das Gefühl, das wird ein guter Film. Selten habe ich mich getäuscht. Insbesondere auf große Meister wie Ingmar Bergman, Alfred Hitchcock, Louis Malle, Roman Polanski oder auch Margarethe von Trotta konnte man sich verlassen. Heute kommt die Klassik vornehmlich im deutschen Kino selten vor, sehe ich einmal von „Lara“ ab, dem großartigen Porträt einer gescheiterten Pianistin von Jan-Ole Gerster. Im europäischen Ausland kommt klassische Musik noch ein bisschen häufiger vor, denke ich beispielsweise an das polnische Drama „Ida“ von Pawel Pawlikowski (2013), an den französischen Film „Die Wolken von Sils Maria“ (2014), an die subtile Schweizer Studie „Das Vorspiel“ (2019) oder zwei Meisterwerke des Griechen Giorgos Lanthimos: „Lobster“ (2015) und „The Favourite-Intrigen und Irrsinn“ (2018). Aber auch andere Musikstile wirken oftmals in den Soundtracks deutscher Produktionen auf mich austauschbar.
Freilich kann schlechte Filmmusik, zumal wenn sie sich als fette Sauce zu aufdringlich über die Bilder legt, auch gewaltig stören, insbesondere in Naturdokumentationen, wo man oftmals die authentischen Geräusche kaum noch hört.
Und natürlich reduziert sich Filmmusik mitnichten auf den Einsatz bereits vorhandener Musik, das interessanteste Segment bildet schließlich die Vielzahl an Kompositionen, die eigens für einen Film geschrieben wurden. Klassiker wie „Vom Winde verweht“ (1939), „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968), „Psycho“ (1960), „Doktor Schiwago“ (1965) oder „Fahrstuhl zum Schaffott“ (1958), für die namhafte Komponisten wie Max Steiner, Ennio Morricone, Bernhard Herrmann, Maurice Jarre oder Miles Daves die Musik schrieben, mögen dafür beispielhaft stehen.
Zu dem mit acht Oscars prämierten Leinwandepos „Vom Winde verweht“ habe ich eine ganz besondere Beziehung. Als ich 12 oder 13 Jahre alt war, habe ich es mir zehn Mal im damaligen Berliner Royal Palast auf Riesenleinwand angesehen und war jedes Mal aufs Neue zutiefst berührt von der ebenso prickelnden wie tragischen Liebesgeschichte von Scarlett O’Hara und Rhett Butler. Und ich begeisterte mich für Vivian Leigh, Clark Gable, Olivia di Havilland und Leslie Howard in den Hauptrollen und für die orchestrale emotionale Musik von Max Steiner. Als der Film vor wenigen Jahren innerhalb einer Retrospektive auf der Berlinale noch einmal gezeigt wurde, schaute ich ihn nach all den Jahrzehnten noch einmal im Kino an. Meine Befürchtung, dass ich ihn aus zeitlicher Distanz und nunmehr aus der Perspektive der Kritikerin vielleicht trivial finden könnte, bestätigte sich nicht. Im Gegenteil, ich wurde wieder emotional bewegt und konnte inzwischen auch die schauspielerischen Leistungen, Regie, Drehbuch und Setdesigns noch stärker würdigen, dies insbesondere auch im Kontext der damaligen Möglichkeiten.
Insofern kann ich nur darüber den Kopf schütteln, dass der Film soeben in negative Schlagzeilen gekommen ist, nachdem der Streamingdienst HBO ihn im Zuge der anhaltenden Anti-Rassismus-Proteste nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd wegen angeblicher Verherrlichung der Sklaverei von seiner Plattform genommen hat.
Ich halte diese Zensur für unangebracht, da der Film lange Zeit vor Martin Luther Kings berühmter Rede „I have a dream“ und der Black Panther-Bewegung entstand, also in Zeiten, als das Wort Rassismus noch nicht einmal existierte. Zumal der Film Farbige keineswegs diffamiert. Im Gegenteil, die vielleicht widerlichste Figur in dem Film, der Scarlett und ihren Schwestern nach Ende des Bürgerkriegs aus ihrem Haus vertreiben will, ist ein Weißer, und Mammy, für deren Darstellung Hattie McDaniel im Übrigen als erste Afroamerikanerin einen Oscar gewann, erscheint charakterlich höchst liebenswert. Wer bemängelt, dass die Sklaven sich in dem Südstaaten-Drama willig in ihr Schicksal fügen, sollte bedenken, dass Kunst immer nur den gesellschaftlichen Bewusstseinszustand seiner Entstehungszeit widerspiegeln kann. Das betrifft andere Themen wie Homosexualität und Frauenemanzipation genauso.
Aber darüber will ich mich nicht weiter auslassen, vielmehr noch darüber mein Bedauern ausdrücken, dass heute kaum noch Filmkompositionen mit Sinfonieorchestern in Studios eingespielt werden wie noch in der Adenauer-Zeit. In einer Retrospektive auf dem Filmfestival in Locarno ließen sich 2017 zahlreiche hochwertige, kaum bekannte Produktionen dieser Zeit entdecken. Insbesondere Meister wie Helmut Käutner und Wolfgang Staudte brachten Werke hervor, die schon zu ihrer Premiere zu Unrecht unterschätzt wurden wie beispielsweise das Drama „Die Rote“ (1962). Und unter den Sinfonieorchestern, die auch den Soundtrack für so manche verachtete Heimatfilme einspielten, fanden sich tatsächlich Spitzenorchester wie die Berliner Philharmoniker. Dieser Teil der Filmkultur ist uns offenbar, nicht zuletzt im Zuge der elektronischen Musik, abhandengekommen.
Meine jüngste Entdeckung ist übrigens Scriabins elegische Klavier-Etüde op.2 Nr.1 in dem französischen essayistischen Dokumentarfilm „Isadoras Kinder“ (2019). Unterschiedlichste Frauen, weiße und farbige, junge und alte, Profitänzerinnen, Laien und ein Mädchen mit Downsyndrom setzen sich in diesem leisen, subtilen Werk mit einer Choreografie der berühmten amerikanischen, 1927 verstorbenen Ausdruckstänzerin Isadora Duncan auseinander, in der diese ihrem tiefen Schmerz über den tragischen Unfalltod ihrer Kinder Raum gab. Der Film, durch den sich das wunderbare, nur zweieinhalbminütige schwermütige Stück wie ein Leitmotiv zieht, verströmt aber nicht nur Verzweiflung, sondern in dem gemeinsamen Erleben mit einem Publikum, das sich anlässlich einer Vorstellung im Film um die Protagonisten versammelt, auch Trost. Wie bedeutsam das gemeinsame Erleben in so einer Tragödie sein kann, das stellt dieses Werk zutiefst bewegend heraus. Insofern sehr schade, dass es wegen Corona seinen deutschen Bundesstart nicht erleben konnte. Wer diesen Film gesehen hat, wird im Übrigens kaum zögern, dass es einen viel besseres politisches Motto gibt als das auf eine Hautfarbe festgelegte „Black Live Matters“, nämlich: ALL LIVES MATTER.
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