Bildschirmfoto 2020 10 15 um 15.43.40Riccardo Muti leitete das Luigi Cherubini Orchestra beim Bologna-Festival

Kirsten Liese

Bologna (Weltexpresso) - Unter normalen Umständen wäre er gerade für zahleiche Konzerte mit seinem Chicago Symphony in den USA. Aber nun, wo dort das Konzertleben stillsteht, nutzt Riccardo Muti die Zeit, um mit seinem Luigi Cherubini Orchestra – ein Klangkörper aus jungen Musikern wie das West-Eastern Divan  – möglichst viel in Italien zu konzertieren. Was die zunehmend restriktiver werdenden Auflagen der italienischen Regierung betrifft, bedarf es  offenbar aber zunehmend vieler Kompromisse.
Ein so schöner Ort unter freiem Himmel wie die venezianische Festung in Ravenna, wo Muti sein erstes Konzert in Italien nach dem Lockdown Mitte Juni dirigierte, stand ihm beim Bologna-Festival offenbar nicht zur Verfügung. Stattdessen musste er dort nun  mit einer Sporthalle Vorlieb nehmen.

Zwar konnten angesichts der nötigen Abstandsregeln immerhin 1300 Zuschauer Platz nehmen, aber an der für einen Konzertabend wünschenswerten Atmosphäre mangelt es noch stärker als in der hässlichen Adriatischen Arena in Pesaro, in der das Rossini Opera-Festival in den vergangenen Jahren seine größeren Produktionen herausbrachte.

Gleichwohl geriet der Konzertabend – bei aller Ernüchterung über das Ambiente – so großartig, dass sich meine weite, beschwerliche, kostspielige Anreise aus Berlin gelohnt hat.

Die ersten drei Werke sind vermutlich Vielen gar nicht so bekannt, verirren sie sich doch höchst selten aufs Programm. Auch dafür schätze ich Muti, dass er sich immer wieder  für vergessene oder selten gespielte Petitessen stark macht.

Giuseppe Martuccis Notturno op.70 erinnert mich mit bittersüßen Melodien und einem sehr ariosen Cellosolo, ungemein sensitiv, sanft und mit warmen schönen Klang von Matilde Michelozzi musiziert,  ein wenig an das Intermezzo aus Franz Schmidts Oper „Notre Dame“.  Marco Enrico Bossis  „Serenatina da Intermezzi Goldoniani“  op.127, inspiriert von den Komödien des venezianischen Dichters Carlo Goldoni, verströmte mit schalkhaften Bläsersoli buffonesken Charme.

Mit Busonis  „Berceuse élégiaque“  folgte dann eine Trauermusik, die für mich neben Mahlers „Kindertotenliedern“  zum Schwermütigsten zählt, was das frühe 20. Jahrhundert musikalisch hervorgebracht hat. Man hört ihr die desolate seelische Verfassung seines Urhebers an, der damit 1909 auf den Tod seiner geliebten Mutter reagierte.  Vom ersten bis zum letzten Ton ist diese leise düstere Musik mit ihren dezenten Grenzüberschreitungen des Tonalen eine einzige schwere Depression. Und ein Vorbote einer unheilvollen Aufführungsgeschichte, ereignete sich doch die Uraufführung mit den New Yorker Philharmonikern 1911 schicksalhaft in dem letzten von Gustav Mahler dirigierten Konzert. Wenige Tage später erkrankte Mahler an einer lebensgefährlichen Infektion, an deren Folgen er bald darauf starb.

Und dann wurde an diesem Abend in Bologna noch des im September verstorbenen Musikjournalisten und Musikwissenschaftlers Mario Messinis gedacht, der das Bologna Festival von 1992 bis zu seinem Tod leitete. Ihm hatte Muti dieses Konzert gewidmet.

Auch wenn mir der Vergleich mit der Interpretation Mahlers fehlt, der von der eigenwilligen Aura dieser Klangwelt fasziniert gewesen sein soll, so beschworen doch Riccardo Muti und sein Luigi Cherubini Orchestra eine derart triste, bedrückende Stimmung herauf, der sich niemand entziehen konnte. Nach diesen leisen, düsteren Klängen hätte jeder Beifall gestört. Muti ließ ihn gar nicht erst zu -  bevor die Stille nach dem letzten Ton einsetzen konnte, hatte er schon das Podium verlassen.

Den Hauptblock des Abends bildete Dvoraks herrliche Neunte Sinfonie „Aus der Neuen Welt“. Wie in Ravenna musste jeder Musiker aus dem Orchester wieder allein an einem Pult sitzen, was das aufeinander Hören und miteinander Musizieren  erschwert. Aber Muti hat die jungen Leute zu einem solchen Spitzenorchester geformt, dass sie selbst mit solchen Widrigkeiten souverän fertig werden. Natürlich zählt das Solo des Englischhorns im Largo, wunderbar sensitiv dargeboten von Anna Leonardi  zu den schönsten Momenten. Es ließ das ganze hässliche Drumherum vergessen und vermittelte das, was in einem solchen Raum eigentlich gar nicht denkbar erscheint: Intimität und Wärme. Auf leise-geheimnisvollem Streicherteppich setzte die Kantilene ein, mit einem Ausdrucksspektrum, das alles umfasst, was diese schlichte tiefe Melodie so berührend macht, Zärtlichkeit, Wehmut, Sehnsucht, Trost und Hoffnung. Dargeboten im denkbar schönsten und sanftesten Ton.

Bei aller trüben Grundstimmung an diesem Abend entbehrten  aber auch die  munteren, kecken, tänzerischen Passagen mit ihren markanten Rhythmen, die insbesondere das Scherzo und den Finalsatz Allegro con fuoco  prägen, nicht der gebotenen Energie. Kaum war  die eine reizvolle Melodie verklungen, folgte schon die nächste. Was für ein Balsam für die Ohren. Sämtliche solistisch viel beschäftigte  Bläser, insbesondere auch Linda Sarcuni (Oboe) und Gianluigi Del Corpo (Solo-Klarinette), erhalten von mir ein Sonderlob. Jedes noch so kleinste Motiv bis hin zu den fatalistischen großformatigen Schlussakkorden erstrahlte aufs Prächtigste.

Bei aller Euphorie über die tolle Aufführung überkam mich auf dem Weg ins Hotel doch eine gewisse Traurigkeit. Der Maestro wirkte auf mich deprimiert, so hatte ich ihn zuvor noch nicht erlebt.

Seine Sorge über Italiens musikalische Zukunft steckt ihm tief in den Knochen. So kehrte er am Ende nicht für eine Zugabe zurück auf das Podium, sondern für eine Rede. Dass die vielen herrlichen kleinen Opernhäuser und Theater, die das Land zu bieten hat, wegen Corona geschlossen sind, schmerzt ihn sehr, weshalb er dazu auffordert, sie endlich wieder zu bespielen! Zudem rief er warnend in Erinnerung, dass zahlreiche Regionen schon gar keine Orchester mehr haben und das Singen völlig unwichtig geworden sei, in den Kirchen als den letzten Orten, wo noch gesungen werde, sei das Niveau geradezu erbärmlich. Das alles serviert er zwar mit einem trockenen Humor, den ich schon in seiner Opernakademie kennenlernen durfte. Gleichwohl machte er auf mich in seinem ganzen Auftreten einen niedergeschlagenen Eindruck. So wie die ignorante Politik wieder einmal durch Abwesenheit glänzte, lässt sich das allzu gut verstehen. Und doch hoffe ich inständig, dass er aus dieser Stimmung wieder herausfindet und seine wertvolle Arbeit mit seinem Orchester fortsetzt.

Foto:
© Todd Rosenberg mit freundlicher Genehmigung von www.riccardomutimusic.com