bl2020 4 brahms symphonies wiener jordanDie Preise der deutschen Schallplattenkritik 

Felicitas Schubert

Berlin (Weltexpresso) -  Es ist eine Institution, der Preis der deutschen Schallplattenkritik, der in jedem Quartal sich traut, die besten Aufnahmen zu küren, wobei, sonst wäre es noch schwieriger als es eh schon ist, gewissermaßen die Musik sortiert ist in verschiedene Formen herkömmlicher Einteilungen, wie der Anzahl der Musiker: von Orchesterwerken bis Solisten. Auch bei der Bestenliste 4/2020 haben sich 154 Kritikerjuroren, aufgeteilt in 32 Fachjurys, alle Neuveröffentlichungen aus dem letzten Quartal  gesichtet, was zu 232 Titeln führte. Aus dieser Anzahl sind 27 Titel als Sieger der Bestenliste gekürt worden, von denen wir die wichtigsten ankündigen.


Mit einem Platz auf der Bestenliste werden also vierteljährlich die besten und interessantesten Neuveröffentlichungen der vorangegangenen drei Monate ausgezeichnet. Bewertungskriterien sind dabei künstlerische Qualität, Repertoirewert, Präsentation und Klangqualität.

 
Orchestermusik und Konzerte

Johannes Brahms: Symphonien Nr. 1-4
Wiener Symphoniker, Philippe Jordan. 4 CDs, Wiener Symphoniker WSO21 (Edel)

Es gibt wahrlich keinen Mangel an Einspielungen der vier Brahms-Symphonien. Doch diese jüngste, entstanden in Philippe Jordans letzter Saison als Chefdirigent der Wiener Symphoniker, überzeugt rundum. Die »Brahms-Heimstatt« – der Wiener Musikvereinssaal – erweist sich als idealer Aufnahmeort. Das für Brahms so wichtige »innere Singen«, wie Jordan es nennt, wird zur konstituierenden, strukturellen und klanglichen Richtschnur seiner Interpretation. Neben Sinnlichkeit und Süße sind straffe Tempi, Detailgenauigkeit und ein federnd transparentes Musizieren die Charakteristika dieser Aufnahmen. Der melancholische Brahms ist ebenso hautnah zu erleben wie der dramatische. Für die Jury: Peter Stieber



bl2020 4 kapustin schnittke transitions c5362Nikolai Kapustin: Cellokonzert Nr. 1 op.85;
Alfred Schnittke: Cellokonzert Nr. 1. Eckart Runge, Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, Frank Strobel. Capriccio C5362 (Naxos)

Im ersten Cellokonzert von Nikolai Kapustin, der im Juli 2020 verstarb, verbinden sich Symphonik, Kammermusik und Jazz auf inspirierende Weise. Kapustin vertraute dem Solisten Eckart Runge die Noten des Werkes an, es erscheint hier als Ersteinspielung. Nicht weniger fasziniert die polystilistische Klangwelt von Alfred Schnittke, der mit seinem ersten Cellokonzert ein Meisterwerk schuf, das heute zum Standardrepertoire gehört. Runge, langjähriger Cellist des Artemis Quartetts, ist in beiden Ausdruckswelten stilsicher zu Hause: Locker und mit leichter Hand bei Kapustin; bei Schnittke mit einer Intensität, die unter die Haut geht. Und allemal ist klar: Hier geht es um Existentielles. 
Für die Jury: Norbert Hornig





bl2020 4 paris moscou trio goldberg ars 38309Kammermusik

Transitions

Paris – Moscou: Trio Goldberg

Sergej Tanejew: Streichtrio h-moll; Jean Françaix: Streichtrio; Joseph Haydn: Streichtrio op.53 Nr.1; Zoltán Kodály: Intermezzo; Franz Schubert: Streichtriosatz D 471; Hans Krása: Tanz; George Enescu: Aubade. Trio Goldberg. SACD, Ars Produktion ARS 38 309 (Note 1)

Auf seiner musikalischen Reiseroute von Paris nach Moskau macht das in Monaco beheimatete Trio Goldberg unter anderem Station bei Jean Françaix, Hans Krása, George Enescu und Sergei Tanejew. Das Schöne dabei ist nicht nur die exzellente Auswahl auch weniger bekannter Streichtrios, sondern die dramaturgische Anordnung der Werke: Man könnte meinen, sie gingen – trotz größerem zeitlichen Abstand ihrer Entstehung – quasi nahtlos auseinander hervor. Musiziert wird auf höchstem Niveau, in makellos kultiviertem Zusammenklang. Höchst lebendig werden die Charakteristika der einzelnen nationalen Klangsprachen realisiert. Mehr Kurzweil geht nicht. 
Für die Jury: Lotte Thaler



bl2020 4 vienne 1900 alp 588Vienne 1900

Erich Wolfgang Korngold: Klaviertrio op.1; Alexander von Zemlinsky: Klarinettentrio d-moll op.3; Gustav Mahler: »Rheinlegendchen«, »Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen«; Alban Berg: Klaviersonate h-moll op.1, Vier Stücke für Klarinette und Klavier op.5, Adagio aus dem Kammerkonzert; Arnold Schönberg: Kammersymphonie Nr.1 op.9. Emmanuel Pahud, Paul Meyer, Daishin Kashimoto, Zvi Plesser, Éric Le Sage. 2 CDs, Alpha Classics ALPHA 588 (Note 1)

Einen Soundtrack zur Pandemie dieser Tage zu benennen, verbietet sich aus vielerlei Gründen. Und doch lauscht man dieser erweiterten Wiener Schule mit aktuellster Faszination. Die Suche nach dem Neuen, Unerhörten um 1900 wird zum Spiegel der inneren Verfassung einer Musikszene, die sich selbst in Frage stellt. Bearbeitungen werden zum Merkmal von Musik über Musik – als ein Inspirationsquell, Kunst im Hermetischen zu schaffen. Dieses »Rheinlegendchen« hören: Und sofort liegt man auf den Knien und glaubt alles, was folgt! Ein Album, das einladend ist und im besten Sinne souverän: Kein Wissen um spätere Anerkennung schiebt sich vor das Wagnis in der Partitur. 
Für die Jury: Julia Kaiser


Tasteninstrumente

Reinhard Febel: 18 Studien für zwei Klaviere
nach Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge. Duo Yaara Tal & Andreas Groethuysen. 2 CDs, Sony Classical 19439784132

Reinhard Febel verzichtet nicht auf eine Note des Bachschen Originals, aber er reichert das überaus komplexe Werk mit zusätzlichen Tönen, (Hall)-Effekten und rhythmischen Veränderungen so an, dass es eine weitere Dimension, Spannung und Dramatik erhält. Diese Arbeitsweise nennt er treffend: »Übermalung«. Yaara Tal und Andreas Groethuysen, die diese achtzehn Studien in Auftrag gegeben hatten, spielen sie mit atemraubender Klarheit und Prägnanz. Vertrackteste Rhythmen wirken wie selbstverständlich, das Herausarbeiten von Themen und Nebenstimmen, feinste dynamische Abstufungen und nicht zuletzt ein äußerst wandelbarer Klavierklang machen diese Einspielung zu einem hinreißenden Erlebnis. 
Für die Jury: Gregor Willmes


Mahan Esfahani – Musique?

Zeitgenössische und elektroakustische Werke für Cembalo von Tōru Takemitsu, Henry Cowell, Kaija Saariaho, Gavin Bryars, Anahita Abbasi, Luc Ferrari. Mahan Esfahani. Hyperion CDA68287 (Note 1)

Das Cembalo assoziiert man gemeinhin mit Alter Musik oder bestenfalls noch mit dem neobarocken Soundtrack der Miss-Marple-Filme, in denen das Tasteninstrument so schrullig zirpt und schnarrt. Doch nun legt Mahan Esfahani eine furiose Einspielung vor, die ausschließlich Werke des 20. und 21. Jahrhunderts vereint. Dabei entfesselt er das Instrument regelrecht, stößt die Tore zu neuen Klangdimensionen auf und traktiert es mitunter auch perkussiv. Das Panorama reicht von Tōru Takemitsus scharf konturiertem Satz »Rain Dreaming« über Henry Cowells klangrauschendes »Set of Four« bis hin zu atemraubenden Elektronik-Experimenten von Kaija Saariaho und Anahita Abbasi. 
Für die Jury: Regine Müller


Oper

Pietro Antonio Cesti: La Dori

... overo Lo schiavo reggio.
Francesca Ascioti, Emöke Baráth, Francesca Lombardi Mazzulli, Rupert Enticknap, Federico Sacchi, Alberto Allegrezza, Pietro Di Bianco, Rocco Cavalluzzi, Konstantin Derri, Accademia Bizantina, Ottavio Dantone. 2 CDs, cpo 555 309-2 (JPC)

Dieser 1657 in Innsbruck uraufgeführte Dreiakter, angesiedelt zwischen der venezianischen Opernästhetik und dem Intrigentheater der Opera seria, ist ein Werk des Übergangs. Faszinierend die lebhafte Theatralik und die Vielfalt musikalischer Gestalten, die ausdrucksstarken Monodien und die Arien von einschmeichelnder Melodik. Mal witzige, mal dramatisch zugespitzte Dialoge, drastisches Dienstbotengezänk und liebreizende Duette folgen Schlag auf Schlag. – Das Solistenensemble und die Accademia Bizantina unter Ottavio Dantone bringen den Kontrastreichtum dieser Musik mit fein ausgestalteten Details zum Klingen. Eine Wiederentdeckung, die reines Hörvergnügen bereitet! 
Für die Jury: Max Nyffeler


Hector Berlioz: Benvenuto Cellini

Michael Spyres, Sophia Burgos, Maurizio Muraro, Lionel Lhote, Tareq Nazmi, Adèle Charvet, Vincent Delhoume, Ashley Riches, Duncan Meadows, Monteverdi Choir, Orchestre Revolutionnaire et Romantique, John Eliot Gardiner. DVD, Chateau de Versailles Spectacles CVS020 (Note 1)

Das war einer der Höhepunkte des Berlioz-Jahres: John Eliot Gardiners Konzerte im Kostüm mit »Benvenuto Cellini«. Beschwingt steht Sir John am Pult des farbensatt säuselnden und trötenden Orchestre Revolutionnaire et Romantique und einem agil witzigen Monteverdi Choir. Alle haben Lust, alle Partien sind bestens besetzt: So wird es zum reinen Vergnügen, diese bunteste, frivolste und facettenreichste Künstler-Oper von Berlioz direkt aus dem römischen Renaissanceleben zu erfahren. Michael Spyres singt den Benvenuto höhentrittsicher charmant. Sophia Burgos hat für seine geliebte Teresa zarte Spitzentöne und Temperament. Ein absolutes Opern-Muss! 
Für die Jury: Manuel Brug

Alte Musik

Johannes de Cleve: Missa Rex Babylonis

& Carole cui nomen, Laudate Dominum, Carole qui veniens, Timete Dominum, Es wel uns Gott genedig sein. Jacobus Vaet: Rex Babylonis. Cinquecento. Hyperion CDA68241 (Note 1)

Die fünf Sänger von Cinquecento sind mit dem bisher im Katalog nicht vertretenen flämischen Komponisten Johannes de Cleve ein weiteres Mal fündig geworden. Er lebte von 1528 bis 1582 und war einer der Hofkomponisten der Habsburger. Eine kunstvolle Messe und fünf Motetten weisen ihn aus als architektonisch eindrucksvollen Kontrapunktiker, was in dieser Aufnahme wunderbar zur Geltung kommt: Die Werke werden tonschön, klangvoll und doch nuancenreich interpretiert von den homogen sich mischenden, zugleich schwerelos dahinfließenden Stimmen dieses herausragenden Vokalensembles. Für die Jury: Uwe Schweikert


Zeitgenössische Musik

Clara Iannotta: earthing

– dead wasps (obituary), a failed entertainment, you crawl over seas of granite, dead wasps in the jam-jar (iii). Jack Quartet. Wergo WER 6433 2 (Naxos)

In der Musik der italienischen Komponistin Clara Iannotta verbinden sich Konzeptdenken und Technik mit Bildhaftigkeit und Subtilität. Das wird gerade in den vier Streichquartetten deutlich, hier interpretiert vom phänomenalen Jack Quartet. Im ältesten von 2013 bleibt der natürliche Klang noch unangetastet, er wird nur erweitert durch Materialien wie Vogelpfeifen oder Styropor. Mal flirrt es scharf, mal kratzt es düster. Diese suggestive, geheimnisvolle Klangwelt voller akustischer Getierchen wird in den neueren Stücken elektronisch verstärkt und verfremdet. Ein Sound voll elementarer, tief mitreißender Energie! 
Für die Jury: Thomas Meyer

Fotos:
©P

Info:
Die Bestenliste mit allen Begründungen der Jury ist online einsehbar unter:
https://www.schallplattenkritik.de/bestenlisten

Der „Preis der deutschen Schallplattenkritik“ e.V. ist ein unabhängiger Zusammenschluss von deutschsprachigen Kritikern. Der Verein ist als gemeinnützig anerkannt, er finanziert sich durch Spenden und freut sich über jegliche Unterstützung. Der PdSK wird gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie von der Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten (GVL).