P1030810Interview mit Roger Stein im „Neuen Theater Höchst“

Eva Mittmann


EM: Konstantin Wecker hat einmal in einem Interview gesagt: „Es geht darum, seinen Idealen treu zu sein, den Idealen, die auf einer Idee und einer Utopie beruhen. Das ist es, was mir Mut macht. Ja, mir macht die Poesie Mut.“ Geht es Dir da ähnlich? Und welches wären beispielsweise deine Ideale und deine Ideen bzw. Utopien?




RS: Sehr ähnlich und es ist sehr schön, dass du mit Konstatin Wecker anfangst, weil ich ihn natürlich sehr schätze und sehr verehre und auch auf seinem Label meine Platten machen darf und es ist auch sehr schön, wenn man mit seinen Vorbildern zu tun haben darf und er macht es natürlich auch sehr gut, wie er immer wieder junge Leute fördert und das macht man natürlich , wenn man keine Angst hat und um auf deine inhaltliche Frage zurückzukommen, ja klar, man hat immer eine Idee und ein Ideal und eine Utopie – und ich hab da auch ein schönes Gedicht zur Utopie und ohne das hat man ja keine Sehnsucht, weil die Sehnsucht ist ja das, was den Menschen antreibt. Genau. Und irgendwas muss dort vorne sein. Das Licht – und dass man dem Licht nachjagt… man wird es nie fassen, man muss damit leben, dass es den Zustand des „Ich bin jetzt dort und ich bin zufrieden und glücklich“ vermutlich nicht gibt als sehnender Mensch, aber es gibt so viele Momente dazwischen, die so erfüllend sind“.


„Ja, und es ist doch gut, so viele Momente zu haben, denn das ist ja der Antriebsmotor - immer wieder neu.

R.S.: „Genau.“


Und nun das Zweite: Poesie und Musik sind ja bekanntlich wundervolle Möglichkeiten, Gefühle, Gedanken, Ängste und Sorgen zu verarbeíten. In welcher Weise gelingt dir diese künstlerische Akrobatik?

RS: Da muss man schon sagen, da muss man aufpassen, dass man nicht nur seine Sorge nimmt und da wären wir wieder bei der Poesie, sondern da ist das Weiß zwischen den Zeilen wichtiger als das Schwarze. Das heißt, wenn ich dem Zuhörer den Raum lasse, seine Sorge oder seine Sehnsucht rauszuhören, dann ist es mir eigentlich gelungen. Das ist das Gleiche wie mit dem Lessing bei Laokoon. Der schönste Moment wird nicht dargestellt; der muss dem Zuschauer oder Zuhörer überlassen bleiben. Ich glaube, dann gelingt’s. Und die eigene Sorge, die dazwischen ist oder das eigene Leiden ist immer ein anderes als das, was dann der Zuhörer heraushört, weil jeder hat seine eigene Geschichte und wichtig ist glaube ich, diesen Raum dazwischen zu lassen, den jeder noch mit seinem Inhalt und manchmal auch mit seinem Schmerz, aber auch mit seinem Glück füllen kann.

Und offenen Fragen.

RS: Ja, genau.


Macht sie dir denn auch Mut – die Poesie? Oder besser gesagt: Seit wann ist die Poesie in Dein Leben getreten und welche Rolle spielt sie bis heute für dich?

P1030672
RS:
Sehr, sehr… natürlich macht sie mir Mut und natürlich macht sie in meinem Leben einen sehr großen Sinn. Ich glaube, ohne Poesie wäre es sehr sinnlos. Manchmal muss man sich dann den Vorwurf gefallen lassen, dass man ins Leben auch hineinprojiziert mit Poesie. Es gibt ja auch die ganz klaren Rationalisten, die sagen: „So isses - und jetzt schau dir das an mit beiden Füßen am Boden.“  Aber, ich finde, die Poesie ist halt eine Begleiterin, die einen sehr wärmt und zu träumen hilft und Dinge erleichtert und gleichzeitig auch manchmal sehr weise ist, weil man erst durch die Poesie auf die wahren Hintergründe kommt.


Und sie treibt einen möglicherweise auch an, Grenzen zu überschreiten, die man sich eventuell setzen könnte, wenn man die Dinge rein realistisch betrachtete.

RS: Absolut. Und sie ist natürlich auch ein Wegbegleiter zur Selbsterkenntnis. Ich würde sogar schon sagen: Die Poesie ersetzt den Psychiater. Spart man noch was (lacht).


 Nächste Frage - Was müsste aus deiner Sicht geschehen, damit die Umsetzung einer gleichberechtigten Gesellschaft gelingen kann?

P1030814RS: Ah, das sind ganz viele Sachen… Wo ist man sozial gleichberechtigt? Es fängt ja schon bei der Geburt an – in welche Verhältnisse man hineingeboren wird. Es wird nie eine gleichberechtigte Gesellschaft geben, daran glaube ich tatsächlich, denn die Startchancen werden ja mit der Geburt schon gelegt: Kommst du aus einem bürgerlich gebildeten Elternhaus oder kommst du aus einem Elternhaus, wo beide nie zu Hause sind, weil sie um ihr Existenzminimum ringen müssen. Daraus erwachsen schon unterschiedliche Chancen. Aufgabe des Staates wäre, möglichst große Chancengleichheit auch durch das Schulsystem, also durch das Bildungssystem zu schaffen. Es heißt nicht, dass man Gleichheit schaffen muss, aber man sollte Chancengleichheit schaffen. Und das schafft man natürlich leider nicht, denn ein Arztkind hat andere Startchancen als eben das Kind einer Supermarktverkäuferin. Das ist einfach so, aber der Staat also ich meine jetzt auch die Allgemeinheit sollte gucken, dass man insbesondere bei jungen Menschen die Chancen möglichst gleichsetzt. Das ist das Eine – die Gleichberechtigung. Das andere ist natürlich dieses Mann-Frau-Ding, das natürlich auch in meiner Dissertation schwerst behandelt wurde, denn ich habe ja eine Dissertation über „Das deutsche Dirnenlied im literarischen Cabaret“ geschrieben. Und spannend ist, warum die Dirne zwischen 1901 und 1930 zur zentralen Kampfigur der Boheme wird. Warum? Weil sie nämlich die einzig handelnde Frau ist, weil sie die einzige freie Frau ist. Wedekind hat einmal gesagt, eine Dirne, eine Prostituierte verkauft sich nur für eine Nacht, während die bürgerliche Ehefrau sich für ein ganzes Leben verkauft. Und das hat in dieser Zeit gestimmt, aber selbst, wenn man sich das heute anguckt, ist es so ungerecht in vielen Bereichen. Ich kenne z.B. auch Frauen, die Agenturen betreiben im künstlerischen Bereich, die stellen keine Frauen ein, die zwischen fünfundzwanzig und dreißig sind. Weil die sagen: „Wenn die mir jetzt schwanger wird, kann ich mir das als kleiner, mittelständischer Betrieb nicht leisten.“ Und schon das ist einfach wieder geschlechterfeindlich. Ich glaube, das wird in hundert Jahren noch nicht gegessen sein, das Thema. Man hat ganz sicher als Mann ganz klare Vorteile.


Das Thema „Mann-Frau“ bzw. Emanzipation hat mich in meiner Vergangenheit auch lange Zeit erschöpfend beschäftigt. Es erscheint allerdings nahezu grotesk vor dem Hintergrund der Bedrohung durch eine mögliche reale Kriegsgefahr. Wie beurteilst du die gegenwärtige Situation?

RS: Ich finde tatsächlich, dass man als Künstler nicht immer polemisch sein muss. Ich weiß, dass viele Kollegen sich sehr polemisch äußern und zum Teil geht es auch gar nicht um die Sache. Das ist jetzt eher Kritik an meiner Zunft. Durch Polemik und sich ganz klar auf eine Seite stellen, dann noch Öffentlichkeit zu generieren und dann noch eigenen Nutzen davon zu haben. Ich bin – ganz klar – sehr, sehr westlich geprägt – durch Schweiz und Frankreich natürlich auch frankophil. Ich habe hier eine ganz klare Einstellung zu Europa und zu Werten. Ich finde, wenn jemand anfängt im 21. Jahrhundert Grenzen durch militärische Aktionen zu verschieben, muss man gemeinsam zusammenstehen und dagegen vorgehen. Denn das wollen wir nicht mehr. Das Thema hätten wir eigentlich im 20.Jahrhundert gegessen gehabt. Deswegen ist für mich vollkommen klar, dass Europa klar Haltung zeigt und zusammensteht. Und man kann das – so lieb das ist mit den Friedenstauben – man kann das nicht mit Händchenhalten und Friedenstauben bekämpfen. Und manchmal schäme ich mich ein bisschen, dass die Schweizer da – ich bin ja ursprünglich Schweizer –so schwer tun mit der Munition, die da die Deutschen eigentlich liefern sollen. Es ist ja eigentlich eine deutsche Munition, die in der Schweiz hergestellt wird, weil Rhein-Metall ist eine deutsche Firma, die zwar in der Schweiz das produziert, aber ursprünglich gehört es zu Rhein-Metall. Dass die Schweizer da so bockig sind und so dumm… Das kann man einfach nicht sagen. Mann kann nicht das Herz von Europa sein und dann neutral. Ein Loch ist das.

Ja, ich denke auch, da muss man Farbe bekennen.

RS: Absolut. Zu Rechtsstaatlichkeit, Rechtssicherheit – zu einfach diesen westlich demokratischen Werten. Da werde ich mich jetzt nicht beliebt machen mit dieser Aussage.


In welcher Weise haben deine Eltern bzw. hat deine Kindheit dein jetziges Gesellschaftsbild geprägt?

P1030712RS: Sehr stark, natürlich - weil mein Vater ist ja gestorben als ich zwei war an einem Hirntumor und meine Mutter hat das eigentlich ganz gut gemanaged, als alleinerziehende Frau mich großzuziehen. Und natürlich hat das sehr, sehr stark mein Gesellschaftsbild geprägt, weil ich gemerkt habe, es trauen sich Männer, sich in die Erziehung einzumischen. Also sowohl aus der Verwandtschaft als auch von außen. Wenn da ein Mann im Hause gewesen wäre, hätten sie sich das nicht getraut. Und vielleicht habe ich dadurch auch als Kind einen kleinen Männlichkeitskomplex abbekommen. Also ich bin handwerklich sehr gut, kann einfach sehr, sehr viel, weil ich dann schnell irgendwie der Mann im Hause sein musste und auch wollte. Ich finde, meine Mutter hat das super hingekriegt. Und neulich haben wir zusammen auf dem Balkon gesessen und über administratives Zeug geredet und ich habe gedacht: Es ist schon schön, wenn du merkst, wie gern du jemanden hast, weil du einfach so zwanzig schöne Jahre hattest mit ihr!

Wie beurteilst du den Einfluss sozialer Medien auf die jetzige Generation? Welche Chancen bzw. welche Gefahren siehst du?

RS: Jetzt abgesehen von den üblichen Gefahren natürlich die, dass man sich blenden lässt, sehe ich auch da, es ist ungerecht, weil in unterschiedlichen sozialen Schichten die Jugendlichen unterschiedlich darauf reagieren und tatsächlich einige darauf reinfallen. Das heißt, auch da ist es wieder so – ich verallgemeinere, aber ich habe das so beobachtet – in eher bürgerlichen Haushalten, aus gutem Bildungsbürgertum spielen die sozialen Medien eine geringere Rolle als in Haushalten, in denen die Kinder sehr allein gelassen sind. Und ich erinnere mich, dass ganz viele meiner Freunde zu Haus keine Fernseher hatten, weil die Eltern sagten: „Man muss die Kinder nicht verblöden – wir machen selber was anderes und beschäftigen uns. Es gibt doch Literatur. Und ich glaube mit den sozialen Medien ist wieder eine ähnliche Entwicklung wie damals die Einstellung man stellt das Kind vor dem Fernseher ab. Es gibt eine Menge Leute, die froh sind, wenn die Kinder beschäftigt sind mit dem I-Phone und wenn die Mutter dann noch auf dem Spielplatz sitzt und selber in „Social Media“ unterwegs ist, glaube ich, es ist einfach eine große Suchtgefahr. Es ist eine Gefahr, sich mit Oberflächlichkeiten zu befassen.

Ja, es lenkt auch ab davon, z.B. Bücher zu lesen oder sich weiterzubilden.

RS: Absolut. Und man verlernt auch die Konzentration sich mit Dingen eingehender zu beschäftigen.


Mit welchem Rat würdest du dich an die jüngere Generation richten wollen?

RS: Das ist natürlich immer gefährlich, aber ich weiß Pepe Lienhard, der Bandleader von Udo Jürgens, hat einmal gesagt - und das habe ich als junger Musiker sehr ernst genommen – „Ja, lernt doch etwas Anständiges, falls es mal nicht klappt mit der Musik!“ Und ich muss sagen, während der Corona-Zeit war ich zum ersten Mal auch sehr froh über mein Germanistikstudium, denn ich bin dadurch sehr sanft gefallen: Es hat mir eine Freundin an der Uni einen Job als Dozent verschafft. Ich habe Schuljobs bekommen. Es ist nicht blöd, seine Träume zu leben. Denn ich kann sehr gut von der Musik leben; das ist sehr, sehr kostbar, dass man das kann, aber es ist auch schön, noch etwas anderes zu haben und gleichzeitig ist es sehr bereichernd. Ich erinnere mich auch, dass ich Theaterwissenschaften und Germanistik studiert habe, weil mich das auch interessiert hat und wenn ich heute manchmal keine Ideen habe, dann weiß ich wieder, wo ich suchen muss. Dann hat man diesen Weg. Und da als junger Mensch zu sagen „Interessiert mich alles nicht“ ist falsch. Es hat mich ganz vieles nicht interessiert, aber ich habe auch gelernt, in Vorlesungen oder Seminaren drin zu sitzen, die mich nicht interessieren und dann komm ich drauf: Es interessieren mich aber zwanzig Prozent. Und man muss dann auch die Härte haben achtzig Prozent Langeweile zu ertragen, um dann die zwanzig Prozent kostbaren Inhalt rauszuziehen. Und das, glaube ich, ist am Schulsystem und am universitären System durchaus toll. Bis heute finde ich das toll, dass man da eben nicht stehenbleibt, sondern im Dialog bleibt. Ob das jetzt ein wissenschaftlicher oder ein künstlerischer Dialog ist, ist eigentlich egal. Hauptsache man bleibt im Dialog, im Austausch mit anderen. Das ist unglaublich wichtig und befruchtend für mich. Als Fazit bleibt der Rat an die Jugendlichen neugierig zu sein und sich auch für Dinge zu interessieren, die auf den ersten Blick nicht so interessant erscheinen.

 

Fotos:
© Michael Dellermann

Info:
https://www.rogerstein.de/

https://de.wikipedia.org/wiki/Roger_Steinhttps://www.neues-theater.de/programm/alle-veranstaltungen