Entdeckung in Volksdorf – Georg Philipp Telemanns „Johannespassion“ von 1765
Helmut Marrat
Hamburg (Weltexpresso) – "Wie lange wird denn das noch dauern? Ich muß auf die Uhr schauen ... schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht's denn? Wenn's einer sieht, so paßt er geradesowenig auf wie ich, und vor dem brauch' ich mich nicht zu genieren ... Erst viertel auf zehn? ... Mir kommt vor, ich sitz' schon drei Stunden in dem Konzert. Ich bin's halt nicht gewohnt ... Was ist es denn eigentlich? Ich muß das Programm anschauen ...
Ja, richtig: Oratorium? Ich hab' gemeint: Messe. Solche Sachen gehören doch nur in die Kirche. Die Kirche hat auch das Gute, daß man jeden Augenblick fortgehen kann. - Wenn ich wenigstens einen Ecksitz hätt'! - Also Geduld, Geduld! Auch Oratorien nehmen ein End'! (...) - Sie singen übrigens sehr schön."
Mit diesem Selbstgespräch fängt Arthur Schnitzlers Erzählung "Leutnant Gustl" an, die mir zufällig ein paar Tage später in die Hände kam.
Und zweifellos: Solche Momente erlebt jeder in jedem Oratorium. Auch bei Bach. Etwa im ersten Teil der "Matthäus-Passion": Auch da gibt es Stellen, die einen nicht packen, wo die Gedanken wegschweifen, man unruhig auf seinem Sitz wird. Und Bach ist ganz ohne Frage packender als Telemann ...
Eine "Johannespassion" von Telemann aber interessiert, gerade weil es eine berühmte
"Johannespassion" von Bach gibt. Könnte die Passion von Telemann auch ohne dies Interesse erregen? - Die Antwort fällt nicht leicht. - Man zögert. Gäbe es die Bachschen großen Passionen (wozu sicher auch das "Weihnachtsoratorium" gehört) nicht, man wäre vielleicht glücklich über den Besitz. Im Vergleich mit Bach hat Telemann keine Chance. Das ist überhaupt keine Frage. Aber der Kontrast ist dennoch spannend: Zur Bewertung auch der Leistung Bachs; aber auch, um zu erkennen, wie hoch immerhin der Standard war, über den Bach so weit hinausragt.
Die Zahl ist nicht entscheidend; aber es ist bemerkenswert, daß Telemann erheblich mehr Passionen und überhaupt etwa dreimal so viele Kompositionen schuf wie Bach. Nicht die Dauer – natürlich - ist entscheidend, sondern die Intensität. Aber es gibt auch noch einen anderen Unterschied: Telemanns Oratorien waren an der Oper ausgerichtet. Ihnen haftet also ein weltlicher Zug an. Und man könnte sich sehr gut eine Aufführung seiner Werke in einem adretten Barocksaal statt in einer Kirche vorstellen. (Leutnant Gustl wäre also zufrieden ...)
Diese Vorstellung fällt bei den Bachschen Oratorien weniger leicht. Allerdings sah ich vor einigen Jahren in der Deutschen Oper Berlin eine Aufführung der "Matthäus-Passion" in Form einer Inszenierung. Diese Aufführung ist vom Musikalischen unvergeßlich; das Szenische bleibt auch in Erinnerung, als Stütze des Musikalischen mehr aber denn als Eigenwert, wenn man den breiten Laufsteg weit ins Parkett hinein einmal ignoriert ...
Die "Johannespassion" hier aber wurde in einer Kirche aufgeführt. In der Rockenhof-Kirche im Hamburger Villenvorort Volksdorf. Der Bau, der an die Backstein-Gotik angelehnt ist, stammt mit seinem kantigen Turm von 1951. Das Innere ist kahl und karg bis auf eine respektable Kreuzigungsgruppe von Karl Schubert als Hauptaltar, stilistisch in der Nachfolge Barlachs und Gerhard Marcks'. - Ein solcher Hauptaltar lädt schon ein zur Aufführung einer österlichen Passion, die sich ja natürlich um den Tod Christi dreht.
Ein solches Werk aufzuführen, ist mutig. Und, um es gleich vorweg zu sagen: Die musikalische Qualität war auffällig und lag weit über dem, was man aus kleineren Kirchen sonst gewöhnt ist! Weder bei den Solisten, noch beim Chor, noch vor allem im Orchester etwa ein Notnagel. Das auch international bekannte Barockorchester "l'arco", also "der Bogen", - es handelt sich um ein Streichorchester, ein Kammerorchester, das aber durch eine Oboe, ein Fagott und Orgeltöne erweitert wurde -, hatte einen beeindruckenden Klang.
Dazu kamen die Solisten, durchweg gute Kräfte. Der Evangelist, der Erzähler der Handlung, war hier kein Tenor, wie man es aus den Bachschen Passionen gewohnt ist, sondern ein Altus, also ein noch höher und mit falsettartiger Stimme singender Mann (Michael Lieb); gewöhnungsbedürftig. Daneben gibt es verschiedene Stückformen: Chöre, die Gesamtheit, Arien für Solostimmen und Duette und Mischformen daraus. Oft auch in den Berichten des Evangelisten eingefügte Rollenspiele, wörtliche Rede, in der dann Christus, Pilatus, Petrus etc direkt von eigenen Sängern vorgestellt werden. Das ist bei Bach auch nicht anders.
Den Jesus sang Jörn Dopfer sehr schön, nur am Ende in der Gefahr, etwas salbig zu werden. Simon Kannenburg als Petrus und Matthias Lüderitz als Pilatus fielen erfreulich auf. Die Frauenpartien, die oft von Telemann als Allegorien aufgefaßt sind und etwa "Die Wahrheit" oder "Die Unschuld", "Die Betrachtung", "Die Andacht", "Die Liebe" oder "Die Gerechtigkeit" heißen, sind etwas ungleich verteilt. Die meisten Partien fallen hier auf den Mezzosopran, Kathrin Bröcking, (solide, aber etwas matt), während der Sopran, Christine Canstein, der mir besser gefiel, von Telemann etwas karg bedacht wurde. Wer weiß, welche Konstellationen da ursprünglich eine Rolle spielten; für eine heutige Aufführung sollte man aber den Versuch unternehmen, ein Gleichgewicht herzustellen. Das würde auch die Musik abwechslungsreicher und belebter machen, sicher kein Fehler, denn die einzelnen Musiknummern sind zwar, hört man sie, schön, aber sie prägen sich nicht ein wie die meisten Stücke der Bachschen Passionen.
Der Chor setzte sich zu 75 Prozent aus Bergstedter Kräften, dem Nachbarort, und nur zu einem Viertel aus Volksdorfer Mitgliedern zusammen. Es braucht ein bißchen, bis er sich eingesungen hat und die Einsätze präzise stimmen, aber dann und bald wird er zu einem wesentlichen Faktor der Aufführung neben Kammerorchester und Solisten. Die Leitung hatte dabei Corinna Pods, deren Stelle prozentual zwischen Bergstedt und Volksdorf auf genau gleiche Weise aufgeteilt ist.
Zu dieser Aufführung wurde auch ein lesenswertes Programmheft herausgegeben. Nur ein Wort stört mich da in dem Artikel von Johannes Pausch. Er spricht nämlich von "recycelten" Partien – und meint damit, daß Telemann gelegentlich die selben Musikstücke in verschiedenen Passionen – 29 von 52 nachgewiesenen sind erhalten – verwendete. Dieses Wort scheint mir aus zwei Gründen unpassend zu sein: Zum einen denkt man bei "recycelt" an Verpackungsmüll, und das ist in Zusammenhang mit dieser Musik sicher kein Kompliment; zum anderen aber liegt auch ein Denkfehler darin: Ein Gegenstand, der "recycelt" wird, wird zunächst einmal in seine Grundstoffe zurück verwandelt. Hier aber geht es darum, daß ein bereits geschriebenes Musikstück, das sich
auch noch bewährt hat, für eine neue, ähnliche Aufgabe angepaßt wird. Es wird zuvor nicht analytisch in seine Bestandteile zerlegt, sondern nur einfach etwas umgeformt und angepaßt: Etwa in der Tonhöhe, so daß aus einer Baß- eine Tenor-, Alt- oder Sopran-Arie werden kann, oder auch, wie es in den Evangelisten-Partien geschah, aus einer tiefen Sopran- eine Altus-Partie gemacht wird. Das entspricht aber ungefähr der Arbeit eines Schneider-Ateliers: Das Kleid wird gekürzt oder ausgelassen, je nach Größe der Person, - der Stoff wird aber nicht erst zuvor in einzelne Fäden zerlegt und dann neu gewoben ... Letztlich ist das ein ganz normaler Vorgang; anders wäre ein solches Arbeitspensum auch nicht zu bewältigen.
Insgesamt ... war es eine mutige und interessante Aufführung mit dem Ergebnis: Man sollte es nicht bei diesem einen Wiederbelebungsversuch bewenden lassen! Denn: Es wird wohl noch einiges zu entdecken geben.
Info:
Telemann (*1681, Magdeburg) schrieb (und kompilierte teils) diese "Johannespassion" nach zwei Vorgängern von 1757 und 1761 im Jahre 1765, zwei Jahre vor seinem Tod. Sein Grab befand sich an der Stelle des heutigen Rathausmarktes in Hamburg; hier erinnert aber eine Gedenktafel seitlich im Boden neben dem Eingang ins Rathaus heute an ihn.