Auch nach 23 Jahren nicht veraltet und mehr als eine liebevolle Erinnerung
Conrad Taler
Bremen (Weltexpresso) - Diesen Text schrieb der Verfasser 1993 für die „Deutsche Sängerzeitung“. Er tat es auf Wunsch seines Sohnes, der 40 Jahre ehrenamtlich als Chorleiter tätig war, dafür mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt wurde und - mitten aus dem Leben herausgerissen - am 3. Oktober 2015 starb. Wann der Artikel veröffentlicht wurde, ist uns nicht bekannt. Die Redaktion
Hunderttausende haben in der vergangenen Wochen und Monaten an Lichterketten teilgenommen, um ihren Protest gegen Ausländerfeindlichkeit und Neonazismus zu bekunden. Die meisten waren zum ersten Mal bei einer Demonstration, darunter vermutlich auch viele Sänger und Chormitglieder. Sie alle hat es angesichts einer Welle von Gewalt gegen unschuldige Menschen auf die Straße getrieben. Sie werden sich gesagt haben: Wer singen will, darf den Kopf nicht in den Sand stecken. Mancher wird jetzt eher geneigt sein, sich neuen Liedern zuzuwenden. Er fände sich in bester Gesellschaft. „Der Deutsche soll alle Sprachen lernen, damit ihm zu Hause kein Fremder unbequem, er aber in der Fremde überall zu Hause sei.“ Goethe hat diese Mahnung formuliert.
Es müssen ja nicht gleich alle Sprachen eingeübt werden, aber vielleicht der eine oder andere neue Chorsatz, der aus den Erfahrungen von gestern Lehren für die Gegenwart vermittelt. Wer da meint, Chöre sollten sich aus der Politik heraushalten, der vergisst, dass ganze Opern der Auflehnung gegen Unrecht und Gewalt entsprangen. Auch mancher vertraute vermeintlich unpolitische Text hat einen hochpolitischen Hintergrund, so etwa „Die Gedanken sind frei“ oder „Zogen einst fünf wilde Schwäne“. Es gibt eine Menge Chorsätze, die das Repertoire bereichern und junge Menschen für den Chorgesang begeistern könnten; sie werden bei Übungsabenden oft genug vermisst. Zu denken ist dabei unter anderem an „Warum zieht Johnny in den Krieg“ von Wolfgang Jehn, an „Wer läutet draußen an der Tür“ von Klaus Nelhiebel, an „Einmal wird Friede sein“ von Jens Rohwer, an „Sag’ Nein“ von Wilhelm Torkel oder „Der müde Soldat“, ebenfalls von Wilhelm Torkel, alle erschienen im Eres-Verlag.
Die Erinnerung an die Schrecken des Krieges und an die Gewaltherrschaft der Nazis steht nicht im luftleeren Raum. Die Gewalttaten gegen Ausländer führen allen vor Augen, dass die Hinterlassenschaft der Nazidiktatur nicht überwunden ist und die Aufforderung der Hitlergegner, den Anfängen zu wehren, nichts von ihrer Dringlichkeit verloren hat. Vergessen wir nicht: „Die Geschichte der Freiheit ist eine Geschichte des Widerstandes“. Der amerikanische Präsident Thomas Woodrow Wilson (1912-1920) appellierte mit diesem Satz an die „Untertannen“, sich niemals auf die Regierung zu verlassen. Antikriegslieder sind brandaktuell. Den Deutschen wird einzureden versucht ihre Soldaten seien unentbehrlich und die Welt warte nur darauf, dass sie sich an militärischen Aktionen beteiligen, die mit der Landesverteidigung nichts zu tun haben. Eines Tages werden uns die Kinder und Enkel vielleicht fragen: Was habt ihr damals gesungen, als ihr wieder einmal in den Krieg gezogen seid?