IGOR LEVIT IN DER HAMBURGER LAEISZHALLE
Helmut Marrat
Weltexpresso (Hamburg) - "O ende nicht, Musik! Ihr süßen Töne
gebt mich nicht wieder an den Weltlärm hin!
In dir allein ist Frieden und ist Schöne,
nur du erklärst der Menschheit ihren Sinn!"
So lauten die ersten 4 von 14 Zeilen des Gedichtes "Beim Anhören einer Beethovenschen Sinfonie" von Edna St. Vincent Millay (1892 – 1950). Sicherlich kann man diese Zeilen auch für Teile der Klaviermusik Beethovens anwenden, in diesem Fall der "Diabelli-Variationen", die den zweiten Teil und Höhepunkt des Konzertes bildeten.
Den Wert des Bleibenden, die Zeiten Überdauernden hat auch die britische Zeitung "The Guardian" Igor Levit attestiert, der 2016 zum 'Gramophone Artist of the Year' gekürt wurde. So ist dieses Jahr für Levit ein bedeutsamer Schritt auf der Karriereleiter; und zahlreiche Konzerte auf der ganzen Welt werden ihm einem breiten Publikum, teils erstmals wie in meinem Falle, präsentieren.
Igor Levit ist mittelgroß. Meine Begleitung nach dem Konzert befragt, auf welches Alter Igor Levit wohl zu schätzen sein, kamen wir beide unabhängig voneinander, aber gleichzeitig auf "vierzig". Er ist aber, wie man im kleinen, gut gemachten Programmheft nachliest, erst 29. Diese Fehleinschätzung mag auch daran liegen, dass sich seine Haare auf seinem Oberkopf bereits gelichtet haben. Aber es spricht auch, bei aller sonstigen jugendlichen Frische, für eine Reife, die er bereits als Künstler erreicht hat.
Levit eröffnet seinen Konzertabend mit einer Partita von Johann Sebastian Bach. Von Murray Perahia hatten wir vor eineinhalb Jahren eine Bachsche Partita gehört. So ist das ein interessanter Vergleich. Perahia betonte die Konstuktion. Levit fällt hingegen sofort durch einen schönen, zarten Anschlag auf. Die einzelnen Nummern reihen sich aneinander. Bach hätte wahrscheinlich diese Bezeichnung nicht gewält; sie soll andeuten, dass das Werk bei Levit in Einzelsätze aufgeteilt erklingt mehr, als dass man einen verbindenden Bogen heraushören würde. Sein Spiel bei diesem Bach – vielleicht liegt es daran? - wirkt auch viel eher evangelisch als barock; also karg, eng, konzentriert-bemüht, viel weniger üppig und etwa schwelgend. Ein sonderbarer Gegensatz: Das Evangelische ausgespielt gegen das barocke Leben; umso mehr, als Johann Sebastian Bach selbst aus einer lutherischen, also evangelisch-protestantischen Familie stammte! Möglich also, dass Bach selbst mit der zurückhaltenden Art des Spiels von Levit viel mehr einverstanden gewesen wäre als mit dem, was wir heute unter Barock und Schwelgen und Üppigkeit und Reichtum der Sinne empfinden.
Die Partita Nr. 1 in B-Dur (BWV 825) besteht aus sieben Sätzen, die bis auf das Präludium sämtlich Tänze seiner Zeit sind. Der siebente und letzte Satz gelingt Levit am besten: Leichtläufig, flüssig gespielt, das rhythmische Element nicht vernachlässigend, und dabei aber mit einer Witzigkeit, die sogar erfreutes Lachen im Publikum hervorruft. Ja, mit einer fast durchtriebenen Ironie gebracht! Starker Applaus. Man merkt es sich.
Der zweite Abschnitt des ersten Teils ist einem Stück gewidmet, das der Komponist Frederic Rzewski (*1938) Igor Levit gewidmet hat: Es heißt "Dreams II", - einen ersten Teil hat es bereits gegeben -, und wurde von Levit beim Heildelberger Frühling 2015 uraufgeführt. Levit erklärt das in einer kurzen, sympathischen Ansprache. - Rzewski ist ein geschickter Kombinierer und Arrangeur von Tonfolgen und Klängen, die bereits andere erfunden haben. Manches erinnert an Keith Jarret (*1945). Aber seine Musik fesselt nicht. Man gleitet mit den Gedanken immer wieder fort, und es dauert, bis es einen Punkt in Rzewskis Musik gibt, der einen zurückholt. Auch das dann nur für Augenblicke. Es kostet einen Zuhörer mehr Energie, als dass es ihm Energie einflößen würde. Auch bei anderen Stücken Rzewskis habe ich das beobachtet. Natürlich ist es ehrenvoll, wenn ein Komponist einem Interpreten eines seiner Stücke widmet – und wer würde das nicht gerne auch zeigen! - Aber überblickend ist zu sagen, dass Rzewskis Stück qualitativ hinter Bachs Partita ebenso wie hinter Beethovens "Diabelli-Variationen" zurückbleibt. -
Der Musikverleger und Komponist Anton Diabelli (1781 – 1858) hatte in einer Art Wettbewerb alle namhaften österreichischen Komponisten gebeten, eine Variation über einen von ihm selbst komponierten Walzer als Grundthema zu schreiben. Das war 1819. Beethoven hatte jedoch keine Neigung, nur einen "Schusterfleck" da mit hinein zu liefern und schob diese Arbeit erst einmal beiseite. Diabelli, den Beethoven scherzhaft manchmal seinen Diabolo, also Teufel, nannte, - womit er aber nicht ganz falsch lag, denn Diabellis Vater hatte noch 'Dämon' geheißen und seinen Namen nur in Anlehnung an Corelli (1653 - 1713) in Diabelli italienisiert -, ließ aber nicht locker, Beethoven an die Abgabe seiner Variation zu erinnern. Diese fiel nun aber anders aus als erwartet: Denn Beethoven begnügte sich nicht mit einer Variation, sondern ihn packte die Lust und Laune, Diabellis Thema nach seinem Geschmack durchzukneten und mal hierhin, mal dorthin zu behandeln, zu verbiegen, zu verwenden.
Beethoven schrieb bis 1823 insgesamt 33 Variationen, die Diabelli im selben Jahr gesondert herausgab, während der die anderen eingegangenen Variationen als zweiten Teil folgen ließ. - Man könnte die Diabelli-Variationen als ein Gegenstück zu Bachs "Goldberg-Variationen" (BWV 988), die 1741 im Druck erschienen, bezeichnen. Über die Goldberg-Variationen wird jedoch gesagt, sie würden zweihundert Jahre Musikentwicklung und -geschichte abschließend zusammenfassen, während Beethovens Diabelli-Variationen gleichzeitig ein Tor in die nachfolgende Zeit geöffnet hätten. Darüber mag man streiten. Unstrittig ist aber, dass Levits Interpretation der Diabelli-Variationen zu einem großen Ereignis wurde.
Bei E.T.A. Hoffmann gibt es eine traurig-sarkastische Schilderung, wie der Konzertmeister Kreissler, - ein alter ego Hoffmanns -, die Bachschen Goldberg-Variationen einem bürgerlichen Zirkel vorspielt und dabei Folgendes erlebt: "Bei Nr. 3 entfernten sich mehrere Damen, verfolgt von Titusköpfen. Die Röderleins, weil der Lehrer spielte, hielten nicht ohne Qual aus bis Nr. 12. Nr. 15 schlug den Zweiwesten-Mann in die Flucht. Aus ganz übertriebener Höflichkeit blieb der Baron bis Nr. 30 und trank bloß viel Punsch aus, den Gottlieb für mich auf den Flügel stellte." - So war es hier in der Hamburger Musikhalle nun nicht: Weder verließ jemand den Raum, noch sah ich irgend gelangweilte Gesichter!
Vieles spielte Levit glasklar. Überhaupt ist er ein Zerleger, Zerdenker, Analytiker des zu spielenden Materials. Das führt oft zu neuen und überraschenden Einblicken; hat aber andererseits den Preis, dass oft der große zusammenfassende Bogen darüber verloren geht. Die Spannung wird selten durchgehend gehalten. Diese Gefahr droht vor allem bei den langsamen, lyrischeren Partien der Stücke, (worunter auch besonders der Rzewski litt). Der Rhythmus schneller Stücke versammelt ihn dagegen. Das zeigt nicht zuletzt auch die Zugabe "Für Elise" (von 1810). - Mehrfach erinnerte mich sein Spiel an die Musik Franz Liszts. Ich stellte mir vor, dass Levit ein interessanter Liszt-Interpret sein könnte, gewissermaßen einen 'Liszt light' bieten würde. - Später sehe ich mich in meiner Idee bestätigt, als ich nachlese, dass Levit selbst seine besondere Vorliebe für den Komponisten Liszt geäußert hat ...
Beethoven aber hat sich teils eng und leicht wiedererkennbar an Diabellis Walzer gehalten, oft aber entfernt er sich auch weit davon. - Manche Partien schienen mir Vorgriffe auf die drei letzten so wunderbaren Klaviersonaten opus 109, 110 und 111 zu sein. Andererseits, so steht es ja im Programm, tragen die Diabelli-Variationen die opus-Zahl 120, müssten also nach Beethovens letzten drei Klaviersonaten entstanden sein. Die Diskrepanz löst sich aber auf, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Beethoven mit vielen Lücken dazwischen für etwa 3 - 4 Jahre an diesen Variationen gearbeitet hat und seine drei letzten Klaviersonaten wie auch Teile der 9. Symphonie (opus 125) und die Missa Solemnis (opus 123) parallel dazu entstanden sind. Stilistische Überschneidungen sind also nicht überraschend. - Ja, manche Variationen sind eng mit Diabellis Walzer verbunden, meist die schnelleren, rhythmisch durchdringenderen Stücke; und manches verläuft sich in wunderlichste, wunderbarste Fernen. Das Werk ist immer dann am größten und fesselndsten, wenn es sich weit von Diabellis Vorlage entfernt hat. Da entstehen dann diese ruhigen musikalischen Inseln, auf die sich wieder Edna St. Vincent Millays Gedicht beziehen lässt:
"Weil deines Zaubers gütige List ihn rief,
schläft nun der Narr, der Geizhals und der Wicht -
mit starren Gliedern, blassem Angesicht -
so wie der Koch im Zaubermärchen schlief."
Das Zaubermärchen, von dem Vincent Millay spricht, heißt "Dornröschen". Das Böse ruht nach ihrer Interpretation, wenn die Musik Beethovens uns gefangen nimmt. Und auch auf E.T.A. Hoffmann sei noch ein zweiter Blick geworfen, der über Beethovens Musik schreibt: "Er trennt sein Ich von dem innern Reich der Töne und gebietet darüber als unumschränkter Herr. Wie ästhetische Meßkünstler im Shakespeare oft über gänzlichen Mangel wahrer Einheit und inneren Zusammenhanges geklagt haben und nur dem tiefern Blick ein schöner Baum, Knospen und Blätter, Blüten und Früchte aus einem Keim treibend, erwächst: so entfaltet auch nur ein sehr tiefes Eingehen in die innere Struktur Beethovenscher Musik die hohe Besonnenheit des Meisters, welche von dem wahren Genie unzertrennlich ist und von dem anhaltenden Studium der Kunst genährt wird. (...) Der romantische Geschmack ist selten, noch seltener das romantische Talent: daher gibt es wohl so wenige, die jene Lyra, welche das wundervolle Reich des Unendlichen aufschließt, anzuschlagen vermögen."
Igor Levit, das ist kein Zweifel, vermochte es anzuschlagen.
Foto: Igor Levit nimmt den Applaus entgegen (c) Wolfgang Mielke
Info: Das Konzert fand statt im Rahmen von ProArte am 12.10.2016. Die nächsten Konzerte dieser Reihe heißen, jeweils um 19:30 h in der Musikhalle/Laeiszhalle: Festival Strings Lucerne unter Daniel Dodds mit Julian Rachlin, Violine (30.10.2016); Rudolf Buchbinder (16.11.2016); Evgeni Koroliov (13.12.2016).