Seine Konzerte am  24./25./26.Mai in Berlin, am 27. Mai mit Anne-Sophie Mutter

Kirsten Liese

Berlin (Weltexpresso) - Wann und wo hat man zuletzt einen solchen Tschaikowsky gehört! Womöglich muss ein Dirigent doch in ein fortgeschrittenes Alter von über 70 kommen, um eine entsprechende musikalische Reise antreten zu können. Riccardo Muti ist jetzt 75 und, wiewohl spürbar umflort von einer Maestro-Aura, in seinem Auftreten absolut uneitel und sparsam in seinen Bewegungen.

Ich fühle mich bei seinen jüngsten Konzerten mit den Berliner Philharmonikern (ich besuchte das erste der Aboserie am 24. Mai und das Sonderkonzert zu Ehren Anne Sophie Mutters am 27.) mehr denn je an den von mir höchst verehrten Sergiu Celibidache erinnert, der sich bei seinen legendären Bruckner-Wiedergaben mit den Münchner Philharmonikern in einem ähnlichen Alter befand. Jedenfalls geht Muti Tschaikowskys Vierte mit den Berliner Philharmonikern mit so wunderbar gewählten, langsamen Tempi an wie man es von Celibidache kennt.

Gerade in dem mit einem Andante sostenuto beginnenden Kopfsatz zahlt sich das sehr aus, kommt doch hier oft das volle Orchester mit viel Blech in Fortissimo-Klängen zum Einsatz. Dank des majestätischen Tempos erfasst das Ohr viel mehr vom klanglichen Reichtum, insbesondere, da die Berliner über erstklassige Bläsersolisten verfügen, die in dieser Sinfonie stark gefordert sind. Hörner und Posaunen prunken mit makellosen Chören in den Fanfaren der Ecksätze, Fagott, Oboe und Klarinette stimmen, vorzugsweise im zweiten Satz, die schwermütigen Themen an.

Und dann kommt noch etwas hinzu, was vermutlich nur Künstler wagen, die niemandem mehr etwas beweisen müssen und musikalisch weise und unabhängig geworden sind: der Mut zu pathetischen Anflügen, die zu Tschaikowskys musikalischem Seelenleben nun einmal unweigerlich dazu gehören, wiewohl sich so viele Dirigenten bemühen, sie zu unterdrücken. Muti gibt diesem Pathos Raum, wird an entsprechender Stelle ganz breit, entschleunigt das Geschehen, um es darauf mit lang gestrecktem Crescendo auf seine dynamischen Höhepunkte hinzuführen. Und was sind das für Augenblicke großer Emotionen!

Im Kontrast dazu dann das hummelflugartige Scherzo mit dem entzückenden Streicherpizzikato-Beginn, so leicht und leise gezupft, als sei’s ein kleiner neckischer Spuk.

Im Finalsatz schließlich setzt das majestätisch schimmernde Becken dem opulenten Orchesterklang mit seinen Einsätzen das Sahnehäubchen auf.

Ebenso im gemäßigten Tempo stimmte Muti zuvor Schuberts vierte Sinfonie, die „Tragische“ an, was hier eine seltene Durchsichtigkeit im Stimmengeflecht bescherte und die Schwere in der Musik noch stärker erlebbar machte, mithin ebenfalls ein seltenes Hörerlebnis bescherte.

 

Sonderkonzert mit Anne–Sophie Mutter

Am vierten Abend, einem Sonderkonzert, richteten sich freilich alle Augen und Ohren auf die Geigerin Anne-Sophie Mutter, die ihre 40-jährige Partnerschaft mit den Berliner Philharmonikern feierte, als deren Solistin sie erstmals 1978 unter ihrem Entdecker und Mentor Herbert von Karajan in der Berliner Philharmonie aufgetreten war.

Ich kann mich an Mutters Auftritte in der Jugendzeit noch gut erinnern, wie sie damals ein Violinkonzert von Mozart spielte, völlig uneitel gekleidet in eine weiße einfach geschnittene Bluse, ganz und gar im Dienst der Musik und unter den väterlichen Fittichen von Karajans.

Davon ist leider über die Jahrzehnte einiges verloren gegangen. Nicht, dass Anne-Sophie Mutter Tschaikowskys Violinkonzert unter Muti schlecht gespielt hätte. Nein, nein, es war schon alles wie gewohnt akkurat, blitzsauber und mit schönem, satten Ton gespielt. Nur klingt der Tschaikowsky bei ihr zu wenig nach Tschaikowsky, weil Mutter nicht über den reinen Schönklang hinausgeht, sie gründet zu wenig in den Tiefen dieser Musik, auch wenn sie immerhin die Canzonetta mit hauchfeinen Pianotönen anstimmt. Aber die Dynamik allein macht es noch nicht. Alles tönt makellos und rein, aber die Musik zielt nicht tief ins Herz, bleibt vielmehr – in einer seltsamen Koinzidenz mit dem glamourösen äußeren Erscheinungsbild der Geigerin, die, sich seit sie ins Erwachsenenalter kam, traditionell in schulterfreier Haute Couture präsentiert – an der Oberfläche. Man könnte es vielleicht auch so formulieren: Das Kind Mutter spielte Mozart und Beethoven ungeschminkt, heute klingt alles etwas geschminkter und aufpolierter. Eine tolle Leistung ist es gleichwohl, nach so vielen Jahren den hohen Standard so halten zu können. Ihre Virtuosität hat sich die Künstlerin bewahrt. So gesehen hatte sie den herzlichen, langen Beifall auch verdient.