Eine Erinnerung an Zeiten als Reisen erlaubt war, Teil 1/3

Klaus Jürgen Schmidt

Nienburg/Weser (Weltexpresso) – Mein Alexis Sorbas hieß Sebastian ... und er saß dort, wo ich mir Auskunft erhoffte über ein Nachtquartier in diesem hochgelegenen Inseldorf. Er saß mit drei Männern in der untergehenden Sonne, jeder vor sich ein Rotweinglas.
Von den vier Männern versteht keiner meinen Kommunikationsversuch, der aus viel Englisch und wenig Spanisch besteht. „Accomodation?“ ... „Sleeping?“ ... „Overnight?“ – „Alojamiento?“


Ein weiterer Stuhl wird an den Tisch gerückt, darauf rasch nachgefüllte Rotweingläser. Es sind bald schon zehn. Danach scheint geklärt, dass wenigstens einer verstanden zu haben scheint: Dieser junge Mann sucht eine Schlafgelegenheit. ...
... „Dieser junge Mann“ ... Wir reden über das vorige Jahrhundert, über das Jahr 1974, „Alexis Sorbas“ war zehn Jahre zuvor in die Kinos gekommen. Von der Geschichte über den mazedonischen Lebenskünstler und den Intellektuellen Basil aus Britannien, die in Griechenland aufeinandertreffen, hatte ich wohl nur die oft im Radio gespielte Melodie zum Sirtaki-Tanz wahrgenommen. Die Parallelen zur Geschichte mit meinem Sebastian sind mir erst vierundvierzig Jahre später aufgefallen, als ich an einem ARTE-Abend erkannte, dass ich den Film zuvor wohl nie gesehen hatte, und damit auch nie die Parallelen hinsichtlich des Aufeinandertreffens zweier verschiedener Kulturen und Lebensprinzipien. ...

An Gomeras Horizont geht die Sonne unter. Dorthin war von hier aus einst Kolumbus aufgebrochen, nicht wissend, was ihn hinter dem Horizont erwartete.
Ich weiss nicht, was mich erwartet, als mir einer der vier Männer seinen spanischen Führerschein zeigt (er war jedenfalls nicht auf den Namen „Sorbas“ ausgestellt). Gemerkt habe ich mir den Namen, den er nannte als ich nach seinem Handschlag sagte: „Mi nombre es Klaus!“
„Mi nombre es Sebastian! – Vamos?“
Ist das denn korrektes Spanisch? schießt es mir durch den Kopf, heißt das nicht „vamonos“ wenn zwei zusammen losziehen wollen?

Aber wohin?

Verstanden hatte ich, dass Sebastian wüsste, wo ich die Nacht verbringen könnte. Er würde mich hinbringen, wenn ich ihn ans Steuer des Mini-Seat ließe, der mich hergebracht hatte und der gegenüber, am Rande des Dorfplatzes, im letzten Abendlicht glänzt. Er sei schon eine Weile nicht mehr Auto gefahren, und ich meine zu verstehen, dass er mich nicht zu einer Adresse in diesem Bergdorf bringen will, er möchte mit mir im Auto ans Meer!
Nun ist es so, dass nahezu jede Küstenortschaft auf Gomera nur über Bergstraßen zu erreichen ist. Es liegen nämlich viele Schluchten dazwischen, eine Küstenstraße gibt es nicht. Man fährt über zahlreiche Serpentinen hinunter und wieder hinauf und wieder hinunter, um von einem Küstenort in einen anderen zu gelangen.
Ich denke, dass die mit dem Mietwagen abgeschlossene Versicherung das Risiko einschließen mag, erhoffe eine Unterkunft bei Freunden meines neuen Bekannten an der Küste – vielleicht sogar bei Fischern? – und lasse Sebastian ans Lenkrad.

Er weiß jedenfalls, wie ein Auto angelassen wird, und seine Fahrweise scheint routiniert als wir beginnen, bergab zu kurven, sogar die Scheinwerfer hat er eingeschaltet.Im Fahren beginnt Sebastian plötzlich in seinen Taschen zu kramen, um dann – vor meinen Augen – ein ziemlich großes Messer aufzuklappen!!!
Ich habe schon die Hand am Türgriff, da fällt mir das wieder zusammengeklappte Messer in den Schoß.
Als was? Als Geste? Du kannst mir trauen?
Mein kulturelles Selbstvertrauen gerät das erste Mal ins Wanken, aber Sebastian hält die Spur durch die Serpentinen.

Wir erreichen die Küste – und bald darauf am Meeressaum den schlecht beleuchteten Parkplatz neben einer gut besuchten Bar. ...
 

... Vierundvierzig Jahre später versuche ich per Google herauszufinden, wo das gewesen sein könnte. War es Playa de La Rajita mit der stillgelegten Fischkonserven-Fabrik? Hatte Sebastian mir nicht etwas von Gelegenheitsarbeit am Fließband erzählt?

Eine Bar gibt es da immer noch. ...
„Holá Sebastian!“ Jeder hier scheint ihn zu kennen. Und er lässt mich herein in seinen Kreis.
„Esto es Papá Noel!“
Wie bitte? Er nennt mich Weihnachtsmann!!!
Sebastian grinst und zeigt auf meinen Schnurrbart.
„Klaus – Nikolaus – Papá Noel!“

Als wir schließlich die Bar verlassen, meine ich aus diversen Bemerkungen verstanden zu haben, dass Sebastian auf der Insel einige Familienanschlüsse mit Nachwuchsbeteiligung hat.
Außerdem habe ich eine Taschenlampe samt Batterien gekauft? Sowie eine Literflasche mit Brandy?
“Necesitamos!”
Brauchen wir?
 
FORTSETZUNG FOLGT

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Grafik: © Klaus Jürgen Schmidt

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