Europäische Kulturhauptstadt Pilsen startet mit großer Show ihr Mammut-Programm
Notker Blechner
Pilsen (Weltexpresso) - Wer Pilsen hört, denkt vor allem an das weltbekannte Pils-Bier. Mit Kultur wird die viertgrößte tschechische Stadt kaum in Verbindung gebracht. Das soll sich ändern. 2015 putzt sich Pilsen als Europäische Kulturhauptstadt 2015 heraus - und will die Besucher mit einem bunten Programm aus Straßentheater, Zirkus-Shows, Ausstellungen, Architektur und Musik anlocken.
Kultur-Veranstaltungen für einen kleinen erlauchten elitären Kreis - so etwas soll es in Pilsen 2015 nicht geben. „Wir wollen die Kultur möglichst für breite Bevölkerungsschichten zugänglich machen“, erklärt Petr Forman, künstlerischer Leiter von „Pilsen 2015“. Das Motto des europäischen Kulturhauptstadtjahrs 2015 heißt denn auch „Open Up!“ - „Öffnet Euch!“. Oder frei übersetzt: „Überwindet Eure Klischees!“
Im Grunde könnte auch die Devise lauten: „Kultur für alle!“ Zahlreiche der geplanten 650 Veranstaltungen während des Kulturhauptstadtjahrs sind frei zugänglich und finden auf öffentlichen Plätzen statt. Mit Street Art und Zirkus-Artistik sollen Besucher angelockt werden, die sonst nicht in ein Museum oder ins Theater gehen.
Hochseil-Balanceakt zur Eröffnung
Einen ersten Vorgeschmack dazu lieferte am Wochenende der Schweizer Hochseilkünstler David Dimitri. Unter bangen Blicken der Zuschauer balancierte Dimitri zur Eröffnungsshow des Kulturhauptstadtjahres auf einem 240 Meter langen Seil zwischen zwei Kirchtürmen auf dem zentralen Marktplatz der Stadt, dem Platz der Republik. „Mir wäre fast das Herz stehen geblieben“, meinte Jiri Suchanek, der Direktor von „Pilsen 2015“. Nach 20 Minuten erreichte der Artist mit einem erleichterten Lächeln sein Ziel, die Kathedrale von Pilsen, und läutete symbolisch die Glocken.
Dieser halsbrecherische Balanceakt wird nicht der einzige in diesem Jahr sein. An mehreren Abenden tritt David Dimitri mit seinem Soloprogramm „L’Homme Cirque“ auf. Dabei feuert ihn eine Kanone auf ein Hochseil, auf dem er dann erneut minutenlang balancieren wird.
Neben Dimitri werden alle zwei Monate weitere Ensembles ihre (Zirkus-)Zelte im Laufe des Jahres in Pilsen aufschlagen. So soll der französische Cirque Aital die Zuschauer nicht nur ins Staunen, sondern auch zum Lachen bringen. Groteske Zirkus-Akrobatik bietet der Cirque Trottola, die italienische Burattini-Familie wiederum kombiniert derben Humor mit rührender Poesie.
Ende August lässt Pilsen die Puppen tanzen
Die Puppen tanzen lassen wird die französische Straßentheater-Kompagnie Royal de Luxe Ende August. Mehrere meterhohe aus Schrott gebastelten Marionetten werden durch die Altstadtgassen aus Pilsen ziehen und neugierige Blicke anziehen. Nach Einschätzung der Veranstalter könnte der Puppen-Marsch der größte Publikumsmagnet des Jahres in der westböhmischen Stadt werden.
Kein Wunder, Puppen spielen in Pilsen traditionell eine große Rolle. Mit Jiri Trinka (1912-1969) lebte in der Stadt einer der berühmteste Puppentrickfilme-Regisseure. Trinka verfilmte beispielsweise Jaroslav Haseks Roman „Der brave Soldat Schwejk“, der sich mit List und Witz durchs Leben schlägt und sich vor dem Einsatz im Ersten Weltkrieg drückt. Eine Ausstellung widmet sich dem Leben und Werk von Jiri Trinka.
Um die rund 170.000 Einwohner von Pilsen einzubeziehen, haben die Organisatoren des Kulturhauptstadtjahrs ein Videoprojekt mit dem Titel „Die verborgene Stadt“ initiiert. Dabei können die Bürger ihre eingescannten Familien-Fotos einschicken. Diese werden im Internet veröffentlicht und später in einer Ausstellung inszeniert.
Maori-Portraits von Gottfried Lindauer
Bei der Auswahl großer Star-Künstler hat sich das Organisationskomitee von Pilsen dagegen recht schwer getan. Mit einem Budget von 20 Millionen Euro könne man auch keine ganz großen Sprünge machen, gibt PR-Chefin Mirka Reifova zu. Statt Van Gogh wie die zweite Europäische Kulturhauptstadt Mons in Belgien setzt Pilsen lieber auf etwas unbekanntere heimische Künstler. Zum Beispiel Gottfried Lindauer (1839-1926). Die Westböhmische und Städtische Galerie zeigen erstmals in Europa seine Sammlung von Maori-Portraits. Der in Pilsen aufgewachsene Künstler war nach Neuseeland ausgewandert und hatte dort die Ureinwohner portraitiert. Bevor die Besucher die Werke sehen können, müssen diese von Maori-Indianeren erst gesegnet werden. Denn die Maoris glauben, dass die Seelen ihrer Verstorbenen in den Bildern weiterleben.
Bürgerwohnungen des Architektur-Pioniers Adolf Loos
Zur Wiederentdeckung des Kulturerbes von Pilsen gehört auch der mährisch-österreichische Architekt Adolf Loos (1870-1933). Er hat in der einstigen Industriestadt überraschend viele Spuren hinterlassen, die anlässlich des Kulturhauptstadtjahrs sichtbar gemacht werden. Architektur-Fans können einen Teil seiner mehr als ein Dutzend eingerichteten Bürgerwohnungen besichtigen – weitläufige Wohnungen mit Kirschholz- und Marmorvertäfelungen und markanten Schreib- und Esstischen, die wie aus einer anderen Zeit wirken. Die meisten der Bürgerwohnungen entwarf Loos für wohlhabende Pilsener Juden, schließlich war Stadt lange Zeit einer der größten jüdischen Gemeinden der damaligen Tschechoslowakei. Von dieser glorreichen Zeit zeugt noch die große Synagoge, die am Rande der Altstadt liegt. Sie ist die zweitgrößte Synagoge Europas und die drittgrößte der Welt.
Ein Teil der Ausstellungen und Konzerte findet an umgenutzten Industrie-Standorten statt. So dient zum Beispiel ein altes Straßenbahndepot als Kulturzentrum. Der Plan, eine ganze Kulturfabrik auf dem Gelände der Brauerei-Ruine Svetovar zu errichten, scheiterte jedoch. Probleme mit gesundheitsgefährdenden Baustoffen machten die Sanierung vorerst unmöglich.
Bier-Tour durch die Unterwelt
Dennoch wird die Braukunst im Rahmen des Europäischen Kulturhauptstadtjahrs nicht unter den Tisch gekehrt. Im Gegenteil: Die Felsenkeller mit ihrem weit verzweigten Gängesystem unter der Stadt werden mehr denn je der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Besonders beeindruckend ist die Besichtigung der „Unterwelt“ in Pilsens größtem Brauerei-Konzern, dem Pilsener Urquell. Ein Labyrinth von Gängen führt die Besucher durch feucht-kühle Luft zu den traditionellen Holzfässern, wo das ursprüngliche naturtrübe ungefilterte Bier gelagert wird. Das kühle Ur-Pils, das Braumeister Vaclav Slauf hier unten probeweise zapft, entschädigt für all die Strapazen einer Reise nach Pilsen.
Deutsche Besucher, die mit der Bahn von Regensburg aus anreisen, werden bereits dort auf das Europäische Kulturhauptstadtjahr eingestimmt. Im „Zug zur Kultur“ unterhalten Künstler die Fahrgäste „im Vorbeigehen“. Eine kleine Musikgruppe tritt in einem Extra-Abteil auf und heizt die Stimmung an.
Internet:
Pilsen 2015