Der Urwaldsteig am Edersee, Teil 1

 

Thomas Adamczak

 

Wiesbaden (Weltexpresso) Glasziegel. Glasziegel, eingelassen in den Erdboden. Auf etwa drei Quadratmetern eine Fülle von Glasziegeln, angeordnet nach einem bestimmten System.

Können Sie sich das vorstellen?

 

Man sieht durch diese Ziegel hindurch, also in die Erde hinein, 10-15 cm tief, und entdeckt eine Flora, die sich normalerweise unterhalb der Oberfläche des Waldbodens befindet und deshalb nicht zu sehen ist.

 

Ich stoße auf diese Einblicke in das Innere des Erdbodens auf dem „Urwaldsteig“, der in etwa 70 Kilometern rund um den Edersee führt. Diese Glasziegel sind Bestandteil der Kunstinstallation „Kommen und Gehen“ des japanischen Künstlers Yusuke Sasaki, der in Berlin bzw. Tokio lebt. „Kommen und Gehen“ ist die letzte Station der zehn „Land-Art-Objekte“, die als Ensemble ein Gesamtkunstwerk darstellen, das nach Auskunft des Kurators Gerhard Hesse eine Verbindung zwischen Kunst und Natur im Nationalpark Kellerwald-Edersee herstellen soll. Die Installation „Kommen und Gehen“ befindet sich keine 200 m abseits vom Urwaldsteig in der Nähe des Parkplatzes Kirchweg.

 

Vom Urwaldsteig führt ein schmaler Pfad zum sogenannten „Christians Eck“, einem besonders eindrucksvollen Aussichtspunkt im Kellerwald. Am „Christians Eck“ - es fehlt eine Informationstafel, die dem Wanderer die Bedeutung der Bezeichnung erklärt - bietet sich wie beim Blick durch ein Riesenbrennglas das typische Panorama der Landschaft im Nationalpark Kellerwald. Waldansichten: Ineinanderfließen von Bergkuppen, Bergrücken, bewaldeten Hängen, sanften Mulden, schroffen Abbrüchen, Schluchten, Steilhängen, Felsnasen. Eine vielfältige Bilderbuchnatur, die sich in unterschiedlichen Facetten auf dem gesamten Urwaldsteig um den Edersee präsentiert, wenn man nur immer mal wieder innehält, das Auge ruhen, achtsam wandern lässt.

 

Die Kunstinstallation von Yusuke Sasaki erweitert diese imponierenden Eindrücke auf verblüffende und erstaunliche Weise. Mit den „Glasziegeln“ bietet der Künstler eine Art Herbarium mitten in der Natur, welches das Augenmerk des Betrachters auf das Innenleben der Erde richtet. Die in den Waldboden eingelassenen Glasziegel ermöglichen es, die sichtbare Natur und die unter der Oberfläche befindliche Natur, die dem Auge ansonsten verborgen ist, gleichzeitig erlebbar zu machen. Der Künstler will so „den Kreislauf der Natur, in dem alle natürlichen Materialien wieder zur Erde werden und die Erde selbst wieder neues Leben hervorbringt“ (Yasuke Sasaki) erfahrbar machen. Ich habe diesen Ort zufällig entdeckt, denn man ist ja nicht immer in der Stimmung, den Wanderweg zu verlassen, um einen Hinweisschild zu folgen. Nur 200 m bis zum „Christians Eck“? Das mag den Ausschlag gegeben haben.

 

Ich habe an diesem Aussichtspunkt eine ganze Weile verbracht, abwechselnd den Rundblick genießend, dann wieder das unvertraute Pflanzenwerk unter den Ziegeln bestaunend. An dieser Kunstinstallation wird exemplarisch erfahrbar, was die am „Warzenbeißer Kunstweg“ beteiligten Künstler intendieren. Sie wollen auf diesen zehn Stationen des Weges den Naturraum in einen Kunstraum verwandeln, wie es der Kurator Gerhard Hesse, der selbst mit zwei Kunstobjekten („Der Anfang“ und „Edertal-Wellen: Die Gedanken sind frei“) vertreten ist, formuliert. Durch die Kombination von Kunst- und Naturraum werden Menschen in unterschiedlicher Weise angesprochen, „denn wer sich bewegt, kann sich bewegen lassen“ (G. Hesse).

 

Die Kunstobjekte auf dem „Warzenbeißer Kunstweg“ greifen Themen aus dem Spektrum der Natur auf. Beispielsweise will Franz Mathias Kronibus (Kassel) mit seinen „Wandersteinen“ den Widerstreit zwischen Mensch und Natur zeigen. Den Wind thematisiert Reta Reinl (Lichtenfels-Sachsenberg) mit einem „Windturm“ und das Phänomen Licht Kordula Klose (Calden-Fürstenwald) mit ihrem „Lichthaus“. Weitere Beispiele sind ein „Naturbusen“ (Thema: Nahrung/Speisung) von Reinhard Mikel (Kukmirn/Burgenland), „Gebärtunnel“ (Thema: Wachsen von Walter; Leo Händler; Walbersdorf/Burgenland)) und „Urbanes Leben“ (Thema: Stadtszenen; Klaus Ludwig Kerstinger; Wien). Als Ermutigung wie behutsame Ermahnung können Gerhard Hesses „Edertal-Wellen“ stehen, deren Thema die Gedankenfreiheit ist. Hesse wie die anderen Künstler erhoffen sich, dass Wanderer, die wie ich zufällig vorbeikommen, oder ausdrückliche Besucher des Kunstweges einen anderen, einen für sie vielleicht neuen Zugang zur Natur finden und zur Auseinandersetzung mit der Natur durch diese Art von Kunst bewegt werden. Hesse verweist auf die Gefahr, dass Natur durch zivilisatorische Eingriffe des Menschen immer mehr aus der Balance gerät und zerstört wird. Mithilfe der Kunst, so wie er sie versteht, will er diese Bedrohung sichtbar machen.

 

Foto 1: Yusuke Sasaki: „Kommen und Gehen“, Christians Eck, © Yusuke Sasaki

Foto 2: Blick in den Glasziegel, © Yusuke Sasaki

 

 

 

Info:

 

www.urwaldsteig-edersee.de – ein erlebnispfad – ein Pfad der Sinne – eine Oase der Stille – herrliche Aussichten – faszinierende Eindrücke

Tel. 05623 99980 34513 Waldeck/Edersee

 

www.naturpark-kellerwald-edersee.de/de/kellerwaldsteig/Start
Die Hauptroute des Kellerwalsteigs ist 156 km lang. Es gibt aber zusätzlich eine Vielzahl von weiteren Wanderwegen im Kellerwald.

Tel. 05621 969450

Laustraße 8, 34537 Bald Wildungen

 

https://www.youtube.com/watch?v=bvvXzo4DTU0

Warzenbeißer-Kunstweg im Nationalpark Kellerwald-Edersee: Zum 10-jährigen Jubiläum des Nationalparks