Das Nachbarland Polen mit dem Fahrrad kennen lernen
Harald Lutz
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Freitagabend. Am Gleis 15 im Bahnhof Berlin-Lichtenberg sammeln sich die Reisenden: Deutsche, Polen, polnisch-deutsche Familien und Einzelreisende anderer Nationalitäten. Alle erwarten den D-Zug Richtung Danzig. Um 21.43 Uhr setzt er sich planmäßig in Bewegung. Es ist die Anreise zu einer zehntägigen Fahrradreise, die uns von Danzig durch die Kaschubei und Pommern bis zurück an die deutsche Grenze bei Küstrin führen wird.
Hauptbahnhof Gdansk Glowny. Am vereinbarten Treffpunkt versammelt sich frühmorgens ein buntes Grüppchen: insgesamt 18 Radler, vor allem aus dem süddeutschen Raum. Bemerkenswert der Frauenüberschuss: Nur vier Geschlechtsgenossen wollen den Nachbarn Polen per Fahrrad entdecken. Tourenleiter Andrzej, im Hauptberuf Deutschlehrer, lädt erst einmal zu einem kräftigen Frühstück ein. Er wird uns in den kommenden Tagen auf dem Fahrrad begleiten. Am ersten Tag in Polen steht zunächst eine dreistündige Führung durch das prachtvoll wieder aufgebaute Danzig auf dem Programm. Am freien Nachmittag erliegen die meisten Frauen den verführerischen Auslagen der Bernstein- und Modeläden. Eine kleinere Gruppe zieht den Strandspaziergang im mondänen Seebad Sopot/Zoppot vor, das nur 20 S-Bahnminuten von Danzig entfernt liegt.
Die Tour beginnt in Lebork
Die Fahrradtour startet Sonntagvormittag im 70 Kilometer weiter westlich gelegenen Lebork/Lauenburg. Hier lernen wir Darek, den zweiten Tourbegleiter, kennen. Er fährt den roten Kleinbus, der unser Gepäck transportiert, unterwegs als Logistikbasis und notfalls auch als Besenwagen dient. Die Touren-Räder werden ausgegeben, Sättel und Lenkervorbauten an die unterschiedlichen Körpergrößen angepasst. Die Frauen fahren mit Siebengang-Nabenschaltungen inkl. Rücktritt, die männlichen Teilnehmer mit einer Sechsgang-Kettenschaltung. Inge hat es vorgezogen, ihr eigenes Fahrrad aus Deutschland mitzubringen.
Nach einem verregneten Frühsommer in Deutschland genießen wir in Pommern das schönste Sommerwetter. Wir fahren zunächst überwiegend auf alten Landstraßen, die seit preußischer Zeit mit Kastanienbäumen und Linden gesäumt sind. Das eine oder andere Schlagloch stört nicht. Schnell zeigt sich, dass die sportlichen Voraussetzungen in der bunt zusammengewürfelten Gruppe sehr unterschiedlich sind: Jeder möchte gerne in seinem eigenen Tempo fahren. Der Kompromiss: Dort, wo es gefahrlos möglich ist, darf eine Spitzengruppe davonpreschen. An den von Andrzej benannten strategischen Stellen und Abzweigungen wird auf alle gewartet. In drei Teiletappen erreichen wir unser erstes Tagesziel: das Schlosshotel Sasino in der Nähe von Leba an der Ostseeküste. Vor dem fürstlichen Abendessen unternehmen wir noch einen kurzen Ausflug zum nahe gelegenen Leuchtturm.
Die Kaschubische Schweiz
In den nächsten Tagen beeindruckt alle das weite, nur dünn besiedelte Land. Der Slowinski-Nationalpark mit seinen riesigen Wanderdünen und das kaschubische Freilichtmuseum in Wdzydze Kiszewskje sind einige der Höhepunkte. Unterwegs bereitet Darek immer wieder ein leckeres Picknick, danach fällt es manchem etwas schwerer, seinen Drahtesel zu besteigen. Es geht durch Felder und Wälder, der eine oder andere tückische Pflaster- und Sandweg muss gemeistert werden, viele schöne Badeseen laden zum kurzen Verweilen ein. Wir erfahren am eigenen Leib, dass die Kaschubische Schweiz tatsächlich das muntere Auf und Ab einer echten Hügellandschaft zu bieten hat. „Fahrradprofi“ Fritz, ein Lehrer, der zusammen mit Ehefrau Anita mit von der Partie ist, freut sich: „Zum Glück fahren wir keine langweilige Flachlandschaft.“
In Bytow/Bütow logieren wir zwei Nächte in der imposanten Ordensritterburg, die der Deutsche Ritterorden im 13. Jahrhundert dort errichtet hat. Heute beherbergt die ehemalige Feste neben Gästen aus aller Welt auch eine öffentliche Bibliothek und das kaschubische Heimatmuseum. Einige Teilnehmer haben familiäre Bezüge zu dem einst von Deutschen bewohnten Landstrich: „Ein Zweig unserer Familie stammt aus einem Dorf in der Nähe von Bytow, durch das ich heute geradelt bin“, erzählt Claudia. Auch sie ist zum ersten Mal in Polen und einfach neugierig, wie es in Pommern so ausschaut.
Als der große Regen kam
Nach sechs wunderschönen Radeltagen gießt es beim Etappen-Start wie aus Kübeln. Natürlich, es ist der 13. August. Als keine Besserung in Sicht ist, startet die Gruppe tapfer dem Etappenziel Cieszyno Drawskie entgegen. An die Schönheiten der Landschaft verschwendet an diesem Tag niemand ein Augenmerk. Auch die im Wald verborgene Stadt Borne Sulinowo, einst Hauptquartier der Roten Armee in Polen, bleibt von uns unentdeckt. Nach zwei Stunden Dauerregen ist selbst die beste Regenkleidung durchweicht. Allgemeiner Tenor aber: Wir hatten bisher mit dem Wetter großes Glück. Bei einer Mehrtagestour muss man auch einen Regentag einkalkulieren. Eine polnische Familie lädt uns unterwegs spontan zu einer Kaffee- und Trockenpause ein. Als wir unser Zielhotel nachmittags erreichen, lacht schon wieder die Sonne.
„Damit wir auf unserer Tour nicht nur die Waden trainieren, steht auch eine Kajakfahrt auf dem Programm“, witzelt Walter, ein IT-Berater aus Regensburg. In der Tat kommen am neunten Tag unserer Polenreise auch die Armmuskeln zum Zuge: Auf dem Flüsschen Drawa erwartet uns für etwa drei Stunden eine wunderschöne Wasserlandschaft mit schilfbewachsenen Ufern , Wasserlinsen und Seerosen. Enten und Schwäne kreuzen unsere Strecke. Ab und zu müssen gefallene Bäume geschickt umschifft werden.
Nach der Mittagspause besteigen wir unsere Räder zur Abschlussetappe. Zum letzten Mal genießen wir die pommerschen Landstraßen und die oft verwünschten Pflaster- und Sandwege in vollen Zügen. „Nachdem die Gruppe sich eingeradelt hat, können gegen Ende der Tour auch die anfangs weniger Geübten gut mithalten“, stellt Profi Fritz zufrieden fest: Wie es sich für eine anständige Rundfahrt gehört, knallen am Ziel in Tuczno die Sektkorken. Alle 18 Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben die 400-Kilometer-Strecke gut bewältigt. Am nächsten Morgen geht es mit dem Bus in die nahe gelegene Grenzstadt Kostrzyn/Küstrin und von dort per Zug nach Berlin. Die Gruppe teilt sich auf, nicht ohne vorher die Adressen für ein Wiedersehenstreffen ausgetauscht zu haben.
Fotos: Harald Lutz
Autoreninfo: Harald Lutz lebt und arbeitet als Fachjournalist und Technikredakteur in Frankfurt am Main.