Serie: Unterwegs im Harz auf dem Hexen-Stieg, Teil 10/10

Thomas Adamczak

Quedlinburg (Weltexpresso) - In der ursprünglichen Konzeption des „Faust“ wäre »Margarete« ein einzigartiges, nämlich aufklärendes und mahnendes Beispiel der mittelalterlichen Hexenverfolgung mit ihren nahezu 50 000 Opfern gewesen.


Ich spitze absichtlich zu, damit die Tragweite wenigstens ansatzweise vorstellbar wird:

50 000 Verbrennungen/Hinrichtungen.
50 000 Fehlurteile.
50 000 Mal  Schmerzen, Qualen als Folge der Folter, ganz zu schweigen von den psychischen Auswirkungen.
50 000-faches Versagen der zuständigen Gerichtsbarkeit.
Versagen der Institution (christliche) Kirche und ihrer Erfüllungsgehilfen aus dem Franziskaner-und Dominikanerorden.

Die Tötung ungeborener, ungetaufter Kinder zählte als zentraler Grund einer Anschuldigung bei der Verfolgung und Verurteilung der sogenannten Hexen. Geständnisse wurden unter Folter erzwungen und als Bestätigung des Hexenverdachts angesehen. »Hochgerichtserscheinungen«, wie sie Goethe geplant und Schöne im Kommentarband (752) im Nachhinein realisiert hat, waren für »Kapitalverbrechen« sowie für Ketzer, Zauberer und Hexen zuständig.

Aufgrund von Frankfurter Prozessakten wusste Goethe von der »Kindsmörderin« Susanna Margaretha Brandt, die den Anstoß für die Gretchen-Dichtung gab. Diese hatte gestanden, der Satan habe ihr eingegeben, das eigene Kind umzubringen.
Außer der Tötung ihres Kindes hat Gretchen nach altkirchlicher Todsündenlehre mehrere Todsünden begangen. Margaretes »>superbia< (als eine über die Ständegrenzen sich erhebende Eitelkeit) zieht die >averitia<(Habgier), >luxuria<(Unkeuschheit) und >acedia<(in der Erscheinungsform der Verzweiflung) nach sich. Diese Versündigungen aus dem Lasterkatalog des Mittelalters bilden den dogmatischen Hintergrund. Als Indizien mussten der Tod der Mutter, des Bruders, des eigenen Kindes gelten.« (940)

Überflüssig zu erwähnen für jeden Leser des »Faust«, dass für sämtliche »Versündigungen« Margaretes letztlich Faust und Mephisto die Verantwortung tragen.
Faust verführt das knapp sechzehnjährige Mädchen mithilfe Mephistos, ist zusammen mit Mephisto für den Tod von Gretchens Mutter verantwortlich. Den Tod des Bruders hat Mephisto mithilfe seiner Tarnkappe bewirkt. Das schwangere Gretchen wird von Faust sitzen gelassen. Sie ist, betrachtet man die Zeitumstände, ohne jegliche Hoffnung, ohne Perspektive. Ein Weiterleben mit dem Kind? In ihrer Situation? Ausgeschlossen!

In der Szene »Trüber Tag/Feld« wird ersichtlich, dass Gretchen gefoltert wurde.
Faust: »Als Missetäterin im Kerker zu entsetzlichen Qualen eingesperrt das holde selige Geschöpf!« Dann der Vorwurf gegenüber Mephisto: »Und mich wiegst du indes in abgeschmackten Zerstreuungen, verbirgst mir ihren wachsenden Jammer und lässest  sie hülflos verderben!« Mephistos zynische Reaktion: »Sie ist die erste nicht.« Faust beschimpft ihn: »Hund! abscheuliches Untier!« Mephistopheles: »Wer war‘s, der sie in‘s Verderben stürzte? Ich oder du?« Faust weiß daraufhin nichts einzuwenden, er blickt nur »wild umher«. Er verlangt von Mephisto, Margarete aus dem Gefängnis zu befreien. Mephisto will die Sinne der Wärter im Gefängnis »umnebeln« und sie dann mit seinen Zauberpferden entführen. Gretchen weigert sich, mit Faust zu fliehen.

Sehen wir uns anhand weniger Textstellen die »Missetäterin« Margarete, dieses »holde unselige Geschöpf«  näher an:

Gretchens Stube
Gretchen am Spinnrade allein
»Meine Ruh‘ ist hin,
Mein Herz ist schwer;
Ich finde sie nimmer
Und nimmermehr.«
(Schöne, Textband, 146)

Am Brunnen
Gretchen nach Hause gehend
» … bin nun selbst der Sünde bloß!
Doch - alles was dazu mich trieb,
Gott! war so gut! ach war so lieb!«
(155)

Zwinger
Gretchen
»Wohin ich immer gehe,
Wie weh, wie weh, wie wehe
Wird mir im Busen hier!
Ich bin ach kaum alleine,
Ich wein‘, ich wein, ich weine,
Das Herz zerbricht in mir.«
(156)

Diese Frau eine »Hexe«?

Eine notwendig knappe Rückbesinnung auf  Goethes »Faust« ergibt: Die berühmteste Frauenfigur in der deutschen Literatur starb als Hexe. Mit ihrem Schicksal stellt Goethe (in seiner ursprünglichen Konzeption, die immerhin der Nachwelt erhalten ist) die Verfolger Margaretes sowie sämtliche Verfolger aller vermeintlichen »Hexen« vor sein fiktives Gericht und spricht sie samt und sonders eines Menschheitsverbrechens schuldig.

Liegt hier möglicherweise die Erklärung dafür, dass sich Heinrich Heine bei der »Harzreise« mit einem »Fragment« begnügt? Er beschäftigte sich nämlich selbst mit Vorarbeiten zu einer Faust-Dichtung, schrieb später ein Faust-Ballett (1948 vertont von Werner Egk). Er muss sich demzufolge mit Faust, der Gretchentragödie, der Walpurgisnacht intensiv beschäftigt haben. Heine ist angehender Jurist, wird die Bedeutung der Hinrichtung von Gretchen als Hexe gesehen haben. Indem er es bei der »Harzreise« beim Fragment belässt, muss er diesen »bunten Faden« nicht fortspinnen.

Wie kriegt man nach solch einem Ausflug in die Lektüre des »Faust« und der »Harzreise« die Kurve zurück zum »Hexen-Stieg«?

Warum haben die Verantwortlichen dieser Fernwanderung den Namen »Hexen-Stieg« gewählt?

Naja, man hatte sich gewiss erhofft, dass solch ein Name möglichst viele Wanderer, viele Menschen anspricht.
Unterschätzt wurde möglicherweise die Gefahr einer Verhohnepipelung  des Hexenphänomens, sobald die Hexe als Touristenattraktion herhalten soll.
Die Kommerzialisierung des Hexenthemas führt zwangsläufig zu einer ärgerlichen Trivialisierung, die Hexenthematik »verläppert“ sich sozusagen durch die Unmassen von Hexenabbildungen, -darstellungen. Hexen auf Schritt und Tritt, die allerdings wohl auch ohne den »Hexen-Stieg« auf dem Brocken (dem Hexenberg) anzutreffen wären. Von „verruchter Lust“, wie sie Heine schnupperte, bleibt da wenig übrig.

Im Iran findet gegenwärtig zum zweiten Mal ein Karikaturenwettbewerb zum Thema Holocaust statt.
»Hakenkreuze springen ins Auge, der Torbau von Auschwitz, Skizzen von Juden, die zu Fratzen verzerrt und auf Stereotype reduziert werden.« (Christoph Hein, Kalkulierte Provokation, FAZ, 19. Mai 2016, Seite 3). Bei der Ausstellung werden einhundertfünfzig Karikaturen aus fünfzig Ländern gezeigt. (Darunter drei Karikaturen aus Deutschland.) Der Gründer und Chef der Galerie, in der die Karikaturen gezeigt werden, der Cartoonist Massoud Schodschai Tabatabai, zeigt sich  im Gespräch »freundlich, warmherzig und unterhaltsam«.

Er begründet die Durchführung des Wettbewerbs folgendermaßen:
»Es gibt nicht den einen Holocaust. Ein Holocaust war der Abwurf der Atombomben der Amerikaner über Japan. Holocaust herrscht im Gazastreifen, in Palästina, im Iran, in Jemen.« (Im „Iran“ lese ich verwundert und reibe mir die Augen.)

»Der Westen hat erst in der dänischen Zeitung unseren Propheten Mohammed in den Schmutz gezogen.« (Er meint die zwölf Karikaturen, die »Jyllands Posten« im Herbst 2005 veröffentlichte.) »Wir haben darauf mit einem Karikaturenwettbewerb geantwortet, denn es hat uns im Herzen verletzt.«

Würde Tabatabai die »Hexenverfolgung«, seiner Logik folgend, ebenfalls als »Holocaust« bezeichnen? Auf alle Fälle könnte er argumentieren, dass der Westen die Opfer seiner eigenen Geschichte mit deren kommerzieller Verwurstung verhöhne.

Der Vergleich der Hexenmanie auf dem Brocken und drum herum mit dem Karikaturenwettbewerb im Iran mag gewagt und konstruiert erscheinen. Vielleicht kann er aber dafür sensibilisieren, dass es keine Alternative zu sachgerechter, wissenschaftlich abgesicherter Information und Aufklärung gibt.

In dieser Hinsicht leistet das Brockenmuseum einiges, meines Erachtens aber nicht genug.
Wünschenswert wäre eine umfassendere  Aufklärung über das Phänomen der Hexe und  der  Hexenverfolgung, damit der von Irsigler geforderte Dialog zwischen „seriöser wissenschaftlicher Forschung“ und am Thema Hexenwahn „tief interessierten Publikum“ erleichtert wird.

In einer Zeit, in der Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhetze zunehmen, Sündenböcke gesucht und in Teilen der Bevölkerung ohne Scham benannt werden, sollte auf einem Weg wie dem »Hexen-Stieg«  Gewicht auf aufklärerische Impulse gelegt werden. Hexen fungierten letztlich auch als »Sündenböcke«.

Einige Informationstafeln am Hexen-Stieg könnten geeignete Informationen bereitstellen. Zum Beispiel sollte die Zahl der verbrannten Hexen im Harz mit der geschätzten Gesamtzahl kontrastiert werden.
Im  Brockenmuseum sollte die fachwissenschaftliche Kontroverse zum Hexenphänomen für interessierte Besucherinnen und Besucher verständlich dargestellt werden. Das erforderte eine Erweiterung der gegenwärtigen Ausstellung im Brockenmuseum.

Dann könnte ein Artikel wie dieser mit den Worten schließen:
»In knapp einer Woche erfährt man auf dem »Hexen-Stieg« und im Brockenmuseum zur Thematik des Wanderweges alles, was man wissen sollte!«
Das wäre doch was! Oder?



Foto: Unterwegs auf dem Hexen-Stieg© Thomas Adamczak

Info: https://www.augustustours.de/de/wanderreisen/harz.html


AugustusTours organisiert seit 1998 individuelle Aktivreisen mit Gepäcktransport entlang der schönsten Rad- und Wanderwege Deutschlands. Neben genauer Planung der Reiseroute kümmert sich der Reiseveranstalter um die Buchung  rad- und wanderfreundlicher Unterkünfte und übernimmt zudem den Transport des Reisegepäcks von Unterkunft zu Unterkunft. Auch Tourenräder oder E-Bikes können von AugustusTours für Radreisen zur Verfügung gestellt werden. Mit über 7700 eigenen Radkilometern und mehr als 400 Wanderkilometern in den Beinen ist das Team von AugustusTours aktiv reisen ein kompetenter Ansprechpartner für Rad- und Wanderreisen in Deutschland.


Der Harzer „Hexen-Stieg führt von Osterode bis nach Thale. Bei Thale ist der sehenswerte Rosstrappenfelsen, den Heine in der „Harzreise“ erwähnt. Außerdem sind „Hexentanzplatz“ („großflächiges Felsplateau mit umfangreicher touristischer Infrastruktur“), „Harzeum“ (Erlebnismuseum), „Walpurgishalle“ und Harzer Bergtheater (Naturtheater)  für Besichtigungen zu empfehlen. AugustusTours bietet im Anschluss an die Wanderung eine zusätzliche Übernachtung in dem beeindruckenden Städtchen Quedlinburg an, das wegen der faszinierenden architektonischen Altstadt auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes steht. Die historische Altstadt beeindruckt den Besucher  mit ca. 2000 Fachwerkhäusern aus acht Jahrhunderten, kopfsteingepflasterten Straßen, verwinkelten Gässchen, einer Vielzahl von Plätzen, sehenswerten Kirchen und Museen.