Serie: „Allzunah“ - Unterwegs auf dem Rennsteig, Teil 4/4
Thomas Adamczak
Eisenach (Weltexpresso) Bei der „Alten Ausspanne“, kurz nach der Schmalkalder Hütte, treffe ich auf eine Gruppe junger Leute, die am Wegesrand lagern. Junge Leute, sehr junge. Also kann man nach der Klasse fragen, in die sie gehen. 9. Klasse seien sie, mit dem Schuljahr gerade fertig geworden. Zwei Abiturienten sind dabei, stellt sich heraus.
h, die sehen gar nicht so viel älter aus als die fünf anderen, denke ich, sage ich natürlich nicht. Sie kommen aus Halle. An der Schule, ihrer Schule, laufe eine Projektwoche. Thema: »Grenzerfahrungen sammeln«. Die Abiturientinnen, eine will Ärztin werden, die andere Dramaturgin oder Lehrerin für behinderte Kinder, sind die verantwortlichen Begleitpersonen.
Ob sie denn schon Grenzerfahrungen gesammelt hätten? Ja schon, sie hätten nämlich keine Handys dabei und vorhin sei der Edeka in dem Ort, in dem sie einkaufen wollten, geschlossen gewesen. Jetzt müssen sie trockenes Brot futtern. Das sei eine Grenzerfahrung. Und: das Übernachten im Freien, sich nicht so wie zu Hause waschen können. Zwei Jungen sind dabei, sonst nur Mädchen. Die Gruppe macht einen freundlich-gelassenen Eindruck. In der Schule müssen sie ihre Erfahrungen in einer »Präsentation« darstellen.
Wenn diese netten Schüler*innen die gleiche Begegnung wie ich gehabt hätten, drei Tage später, in der Nähe von Ernstthal, als ich auf dem Weg nach Steinach war, hätten sie interessante »Grenzerfahrungen« einer ganz anderen Dimension zu hören bekommen. Mitten im Wald hält neben mir ein Auto. Der Besitzer ist unterwegs zu irgendeiner Holzarbeit, hat die Fahrgenehmigung für dieses Waldstück. Der Mann redet eine geschlagene Stunde mit mir, aus ihm sprudelt es förmlich heraus. Ich stelle gelegentlich eine Frage, mache mir nach einer Weile Notizen, ohne dass er seinen Redefluss unterbricht. Gegen Ende des Gesprächs meint er, jetzt müsse er aber »endlich Leine ziehen«. Dann sagt er: »Wenn wir uns in zehn Jahren wieder treffen, gesetzt, ich lebe dann noch, werde ich das gleiche wieder erzählen. Warum? Weil es die Wahrheit ist, die reine Wahrheit!«
Wir befinden uns unweit der ehemaligen Grenze. Er kennt sich hier offenkundig gut aus. War vierundzwanzig Jahre im Großhandel tätig, dann im Einzelhandel. Zusammen mit seiner Frau hatte er in der Nähe ein Lebensmittelgeschäft. Von Anfang der achtziger Jahre bis zum Jahr 2009. Er nennt mir aus dem Kopf die Summen, die er in der DDR und danach pro Jahr an Steuern zu zahlen hatte, als Selbstständiger, Eigentümer eines Lebensmittelladens. Unmittelbar nach der Wende waren sie auf ihren gesamten Waren sitzen geblieben. Seine Frau und er hätten eine Weile am Hungertuch genagt.
Mittlerweile sind etliche DDR-Waren wieder »in«, zum Beispiel Mühlhäuser Pflaumenmus, Born Senf aus Erfurt, Nordhäuser Doppelkorn sowieso. In Ilmenau gibt es eine Kaufhalle mit mehr als zweihundert Waren aus der ehemaligen DDR. 70 % der Artikel werden noch hergestellt, von Firmen, die ihren Sitz nach wie vor weitgehend im Osten haben. Die anderen 30 % sind Restwaren aus ehemaligen DDR-Zeiten.
Unmittelbar nach der Wende war das anders, da gingen solche Waren erst mal gar nicht. Meinem Gesprächspartner geht es aber weniger um die Zeit nach der Wende, sondern um die davor.
An der Grenze gab es eine 500 m breite »Schutzzone« und ein 5 km breites »Sperrgebiet«. Die Menschen in der »Schutzzone« gehörten zur »Versorgungsstufe 1A«. Die »MHO« (Militärischer Handelsorganisation) versorgte die Bevölkerung je nach Versorgungsstufe mit Waren. Die Versorgungsstufen reichten von »Versorgungsstufe 1A« bis zu »Versorgungsstufe 4«.
Die Bevölkerung in den »Schutzzonen« bekam bei sämtlichen Waren die beste Qualität. Als Beispiel nennt er die damals allseits beliebten »Bockwürste«, die mit Natur- bzw. mit Kunstdarm hergestellt wurden. Die Stasi-Leute, die in unmittelbarer Nähe ein Erholungsheim hatten (»Brand«), hätten nur Bockwürste mit Naturdarm bestellt und auch gekriegt, weil diese direkt an der Steckdose gegrillt werden konnten, erzählt mir der Mann, die mit Kunstdarm aber nicht.
Fünf Bockwürste pro Glas. So viele Bockwürste bekamen die, dass gar nicht alle hätten verputzt werden können. In der »Schutzzone« lagen in unmittelbarer Umgebung vier Dörfer. Auch die Bevölkerung in diesen Dörfern gehörte zur »Versorgungsstufe 1A«. Alle, die in der Sperrzone wohnten, bekamen eine fünfzehnprozentige »Sperrzonen-Zulage«. Er kenne ein Lehrerehepaar. Die bekamen zu DDR-Zeiten pro Person neunhundert Mark. Im Jahr hätten sie zusammen 3240 Mark an Zulage bekommen, in dreißig Jahren, er hat diese Zahlen alle im Kopf und spult sie herunter, 972 000 Mark allein an Zuschlägen.
Über diese Bevorzugung herrschte damals Stillschweigen, würde auch heute nicht gesprochen. Ich bräuchte mir nur mal die Häuser unmittelbar an der ehemaligen Grenze anzuschauen, die seien in einem viel besseren Zustand als die Häuser außerhalb von Schutz- bzw. Sperrzone.
Dann kommt die Rede auf die sogenannten »Grenzhelfer«, die von der »Grenzpolizei« rekrutiert wurden. Diese »Grenzhelfer« hätten, er wiegt den Kopf und runzelt die Stirn, bei der Denunziation von Mitbürgern und Mitbürgerinnen »Kopfgeld« bekommen.
Der Ort Sonnenberg wäre aus dem Sperrgebiet herausgenommen worden, weil es für »die« sonst zu teuer geworden wäre. Dass der Mann bemüht ist, nicht einseitig zu argumentieren, wird ersichtlich, als er die »Zonenrandförderung« anspricht: Millionenbeträge sind geflossen. Er nennt als Beispiel eine Familie im ehemaligen Westen, die mittels dieser Unterstützung mehrere Firmen hätte gründen oder übernehmen können. Solche Leute seien durch die Zonenrandförderung reich geworden.
Er geht übergangslos auf die Kuba-Krise 1962 ein. Ein Bekannter, er nennt ihn Rolf, den er mittlerweile gut kennt, habe ihm damals auf der gegenüberliegenden Seite bewaffnet gegenübergestanden. Sie hätten um ein Haar aufeinander schießen müssen. Es sah ja so aus, als würde es zwischen den Blöcken krachen. Sein Bekannter, der ehemalige Wessi, ist zusammen mit etlichen ehemaligen Ossis in einem Verein. Mein Gesprächspartner hat ihn schon mehrfach aufgefordert, seine »Freunde« doch mal nach den Privilegien zu fragen, die es für DDR-Bürger in der »Schutzzone« und der »Sperrzone« gegeben habe. Rolf habe das bislang nicht fertig gebracht. Er fürchtet, dass sonst die Atmosphäre im Verein belastet würde.
Ich frage nach der Zeit vor und der nach der Wende. Ich will auf einen Vergleich hinaus. Er zögert, aber nur kurz. Etliche hätten damals einen »Denkzettel« verdient gehabt. Kein ungeeignetes Wort, Denkzettel, geht mir durch den Kopf. Diese Leute hätten vor der Wende »die große Fresse« gehabt. Und die mit der »großen Fresse« hätten einen »Denkzettel kriegen sollen. Dann äußert er sich skeptisch über die Linkspartei in Thüringen, bezieht auch den Ministerpräsidenten mit ein. Ich verweise darauf, dass meine drei Gesprächspartner auf dem Marktplatz in Eisenach mit Hochachtung vom Ministerpräsidenten gesprochen hätten, der zudem überzeugter Christ sei. Die Linken, schlage ich vor, hätten doch bestimmt aus den Fehlern der DDR gelernt. Er bezweifelt das entschieden.
Er spricht noch die Glas-Währung an, die es im nahe gelegenen Lauscha mit 200-300 Glasbläsern gegeben habe. Eine regelrechte Glas-Währung. Den Glasbläsern sei es bestens gegangen, die wären an Waren herangekommen, die sich andere nicht hätten leisten können.
Ich beende dieses Gespräch. Mein Gesprächspartner hätte sonst glatt vergessen, dass er eigentlich »Leine ziehen« wollte. In zehn Jahren, nehme ich mir vor, will ich wieder auf dem Rennsteig unterwegs sein, nach Möglichkeit. Ob ich, falls ich ihn treffen sollte, was natürlich ziemlich unwahrscheinlich ist, wieder seine Wahrheit - »diese Wahrheit, nichts als die Wahrheit« - zu hören bekommen?
Foto: Schuhbaum.Rennsteig©Thomas.Adamczak
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