opt DSC03479 2„50 Jahre in Bewegung – 1968 und die Folgen“ der Frankfurter Bürger-Universität 2018

Heinz Markert

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Festzustellen war: den Treffen zu 1968 und Heute muss erst der Sinn herausgepresst werden. Achtundsechzig und Heute stehen in einer nicht aufgearbeiteten und offenen Beziehung zueinander.

Luzide Zeitanalysen wurden in jugendbiographischen Tagen bei Horkheimer gefunden, wie zuvor das Buch zum Holocaust von Bernard Klieger (‚Der Weg, den wir gingen‘), das auf dem Speicher der Eltern und Großeltern wartete, um vom Zwölfjährigen gelesen zu werden. Gegenwärtig geht die Zeitdiagnose mehr Richtung Schlagwort. Die Zeit wird nicht mehr so recht verstanden, wenngleich dieses Geschäft auch schwierig geworden sein mag.

Sich bloß nicht mit den Mächtigen anlegen (denn keiner traut dem andern)

Es fehlt an einem Furor des geistigen und widerständigen Lebens, ohne dass es hierzu der Überschätzung des Selbst bräuchte. Es braucht nur die geöffnete Brustregion und den aufrechten Gang. Die geistige Existenz ist der Urzustand, gegründet in der Kindheit. Die Koryphäen haben ausgedient oder haben abgedankt, ihre Zeit ist dahin oder verstrichen. Unsere Mentoren wurden noch durch Wirklichkeit geformt. Es fehlt auch jetzt an Stirn sich mit Mächtigen anzulegen. So werden die Verhältnisse nurmehr ausgepinselt, statt sie grundlegend infrage zu stellen.

Lässt man heutige Veranstaltungen der Bürger-Universität und zu den Normative Orders hinter sich, bleibt der Nachgeschmack, dass es zur Hauptsache gar nicht kam. Die Radikalität und zugleich Grandezza eines Horkheimers ist Vergangenheit. Verwaltungstechniken im Behandeln der sich ballenden Tyrannen heutiger Zeit überdecken das Wesentliche, ihr Tun bleibt noch wenig aufgehellt, es wird mit spitzen Fingern behandelt. Manche scheinen ausgerechnet dann Professoren zu werden, wenn sie ihren Aufstieg schon rückwärtig besehen. Die Normalität aber müsste sein, dass sie sich unbeliebt machen, um ihrer Art zu dienen.

Der bekannte Habermasche Strukturwandel der Öffentlichkeit ist die Prämisse der Misere, vor der heute kapituliert zu werden scheint. Dies kann nur durch eine aufständische Jugend durchbrochen werden, die sich gegen die ausufernden Machtgebilde der angemaßt digitalen und finanziellen Industrien stellt. Die FDP ist keine Wächterin mehr über Machtgebilde, das blieb weitgehend eine Theorie bei Walter Eucken und Wilhelm Röpke, mit der Wendung gegen Kartelle. Diese Wächterfunktion spielt unter Christian Lindner keine Rolle mehr.

Theorien, die das Grau der Fünfziger und frühen Sechziger durchbrachen

Der Sommer der Theorie ließ explosionshaft etwas aufbrechen. Es war wie der Anschub aus dem Nichts. Es war eine goldene Zeit, eine Ausnahmeperiode. Damit einher ging die British Blues Explosion, die die Musik revolutionierte. Ob es sich um ein Gesamtkunstwerk in einem Moment der säkularen Parusie handelte, die kommt, geht und eventuell wiederkommt?

Auf der Bürger-Universität zum Sommer der Theorie von Achtundsechzig war zutreffend von der existentiellen Bedeutung der Theorie zu damaliger Zeit die Rede. Selbst als Auszubildender wurde man von dem Furor der Theorie erfasst, die neuartige Sprache wurde rasend schnell gelernt, wir machten uns an die neue Interpretation des Seins und der Verhältnisse. Einen Monat zuvor war man noch fast ahnungslos. Der Drang ging in Richtung Selbststudium, Adorno-Schüler kamen auf den Schulhof der nahe gelegenen Gutenbergschule und agitierten auf intellektuelle Weise. Alles wurde danach infrage gestellt und mit dem neuen Jargon durchdrungen.

Man wurde des Elitären bezichtigt. Die Diskutanten der Bürgeruniversität kamen darauf zu sprechen. Autoritäten gerieten in die Defensive, wir durften zum Schul-Direktor, konnten Anregungen vorbringen und alles auf den Tisch legen. Auf dem Schultisch in der Klasse wurde die angesagte, teils noch zu lesende Literatur aufgereiht, der Sozialkundelehrer belustigte sich darüber. Als Skeptiker aufgrund von unangenehmer Erfahrung war er illusionslos pragmatisch geworden, versuchte abzubremsen. Er sah ungute Ideologie am Werk, die ihn an eine vorherige erinnerte. Die Lehrfirma wusste sich nicht mehr anders zu behelfen, als dass sie sich den Kritiken und Einwendungen öffnete, sich tolerant zeigte.

Achtundsechzig elektrisierte durch alle Gebiete der Gesellschaft hindurch

Die Diskutanten zur Bürgeruniversität waren sich darin einig, dass die Theorie, die vom studentischen Milieu in ein neues Fahrwasser gelenkt wurde, ausdrücklich schwierig sein wollte. Man spricht vom elitären Anspruch der Achtundsechziger. Zuerst aber war aufzuarbeiten, die Philosophie- und Ideengeschichte, mit Marx und Freud am Ausgang einer Tradition, aus der die Kritische Theorie ihr philosophisch-soziologisches schwieriges Geschäft ableitete, die uns wie eine Rettung vorkam. Im später aufgenommenen Studium war auch der durch die NS-Zeit vorbelastete Heidegger, der die Erste Philosophie des Ich-denke eines René Descartes und die Kritik der reinen Vernunft ontologisch als Neugrundlegung der Metaphysik auszulegen versuchte („Problem der Metaphysik als das einer Fundamentalontologie“) noch immer ein Massiv, das den Intellekt ins Seminar zu locken vermochte. Damals war es möglich, eine Stelle zu kündigen, um vorübergehend privat zu studieren und nach drei Monaten wieder eine neue Stelle anzutreten. Es war ja Hochkonjunktur. So kam es auch zum ausgiebigen Lesen von Freud.

Eine andere schwierige und vertrackte philosophische Natur, die zog, war Wittgenstein mit dem Tractatus logico-philosophicus. Diese Abhandlung geht in gewissem Sinn von Alltagssituationen aus, in denen das Nicht-mehr-Selbstverständliche sich schon in ganz einfachen Begriffen und Sachverhalten versteckt. Aber während das noch verhandelt wurde, war gleichzeitig eine Bewegung in Gang, die mit der Philosophie von der Gesellschaft eben nicht mehr nochmal Metaphysik sein wollte, weder eine hohe noch eine weniger hoch angesiedelte. Die Theorie von der Gesellschaft galt als Zaubermittel. Die Gesellschaft wurde als die wahrhaft normative Kraft ausgemacht, in der alles verborgen sei, ihr Defekt müsse durch die Theorie gehoben werden. Die Impulse hierzu kamen nicht aus einer Richtung, sie kamen aus ganz unterschiedlichen.

Die zentrale ‚Marxbewegung‘ im Denken war: wie kann es sein, dass sich hinter dem Rücken einer Gesellschaft etwas entwickelt und durchsetzt, das als existentielle Krisen und Katastrophen unvermittelt hereinbrechen kann. Siehe Auschwitz vor unserer Zeit, der Finanzcrash in gegenwärtiger. Des späten nachts wurde Adornos „Drei Studien zu Hegel“ im Rundfunk gelauscht. Man war fasziniert, ohne genug zu verstehen, als Auszubildender, aber selbst ein Arbeiter-Kollege hat diese Studien gehört und am nächsten Morgen gemeint, es sei absolut nichts zu verstehen gewesen. Aber er war dabei. Damals galt das Radio noch etwas.

Die Klassiker mussten zunächst erarbeitet werden, oft geschah dies gemeinsam in der Gruppe. Aber es war doch eine persönliche Sache. Und dies spielte sich ab, als die ‚People‘, die von Kalifornien in den Äther abhoben, so ganz anders ‚in Motion‘ gerieten, mit den bewusstseinserweiternden Gaben, die sie sich verabreichten. Mit der Wende der Sechziger Jahre waren in jedem Fall Erlösungs- und Befreiungsansprüche verbunden, die ganz kurzfristig einzulösen gewesen wären. Kant verstand sich noch mit der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, womit selbst er doch der Zensur des Königs auffällig wurde, aber in der Neuen Zeit verschwammen all die Grenzen vormals geschiedener Sphären, Denk- und Seinsweisen. Das war mit der Exklusivität des ‚Wir machen alles neu‘ verknüpft, mit dem ‚Neuer Himmel, neue Erde‘ eines Ernst Bloch auch, der eifrig gelesen wurde.

Das Abenteuer Theorie wurde in der Bürgeruniversität erwähnt

Die Frage ist nun, warum wird das Abenteuer Theorie und gesellschaftlicher Versuch heutigentags so sehr gemieden, bis auf eher dörfliche Ausnahmen; etwa da, wo die Allmende wiederentdeckt und praktiziert wird oder in der Kommune Niederkaufungen. Sprach kürzlich mit einer Alt-Achtundsechzigerin. Sie berichtete von einem Workshop, in dem einer, der zuvor eine Rede gehalten hatte, nachher zugab, sich während seines Vortrags nicht getraut zu haben, die eigentlich wichtigen Einsichten zur Solidarität preiszugeben. Wer würde nicht vermuten, dass das mit Politik, mit ihren Hintermännern in der Wirtschaft und mit dem Einfluss von Lobbygruppen zu tun hat, deren Besitzstände erhalten bleiben sollen, wobei deren Handeln sich gegen das aktuelle legitime Interesse vieler und das antike Wohl Aller – und nicht weniger - richtet. Zum Abenteuer Theorie und Praxis gehört übrigens auch die Wende, dass das künftige Achtundsechzig von der neuen Frauenbewegung angeführt werden muss. Auf diese naheliegende Idee kam die Diskussionsrunde schon gar nicht.

Info:
Es diskutierten: Prof. Philipp Felsch, Prof. Klaus Günther, Jürgen Kaube, Dr. Rolf Wiggershaus; moderiert hat Rebecca Schmidt (Exzellenzcluster Normative Ordnungen)

Foto:
Heinz Markert