Queres aus der Quarantaene 5 560x315 0a45f2b9d590fd0f27387176fb0f4f677 lebenspraktisch-geistliche Empfehlungen. Queres aus der Quarantäne, Teil 5

Thorsten Latzel

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Was für eine Herausforderung: Schulen und Kitas dicht, fast alle sind zu Hause, in den Nachrichten gibt es nur noch Corona. Dazu kommen Sorgen und Ängste: um die Großeltern, die eigene Gesundheit, die berufliche Existenz oder die Bezahlung des nächsten Kredits. Trotz schönen Frühlingswetters draußen können sich da zu Hause Stress und Konflikte sehr leicht aufbauen.

Das gilt sowohl für Familien und Lebensgemeinschaften als auch für Menschen, die allein leben. Man kennt das aus anderen Zeiten, etwa dem gemeinsamen Urlaub oder Weihnachten. Auf einmal sind alle zusammen – und bald schon gibt es den ersten Konflikt. Oder das alltägliche Beziehungsnetz aus Schule und Arbeit ist weg – und schon fällt einem die Decke auf den Kopf. Nur dass jetzt noch die allgemeine Pandemie-Stimmung dazukommt. Da kann es leicht zum „Lagerkoller“ kommen, emotionalen Ausbrüchen, wie man sie auch aus anderen Situationen kennt, in denen Menschen über längere Zeit in Gruppen oder allein auf begrenztem Raum leben. Etwa von Freizeitcamps, Trainingslagern, Gefängnissen – oder auch vom sogenannten „Trapper-Fieber“. Zugespitzt formuliert, können hier Menschen zwei sehr unterschiedliche Erfahrungen machen: „die Hölle, das sind die anderen“ (Jean-Paul Sartre) oder „die Hölle, das bin ich, allein mit mir selbst“.

Dies muss nicht so sein. Und es gibt eben genauso die andere Möglichkeit, dass in solchen Zeiten Zusammenhalt und Gemeinschaft ganz neu erfahren werden. Dass einem neu deutlich wird, worauf es im Leben eigentlich ankommt, was man aneinander hat und wie reich man persönlich beschenkt ist. Dazu ist es wichtig, gut auf sich selbst und die anderen zu achten.


Hier sieben lebenspraktisch-geistliche Empfehlungen, wie man in diesen besonderen Zeiten gut mit seinen Hausgenossen und sich selbst klarkommt.

1. „Einander Raum lassen“

Zu den fundamentalen Bedürfnissen eines Menschen gehört es, Schutz- und Rückzugsräume zu haben. Deshalb sind Wohnungen rechtlich so hoch geschützt (etwa GG Art. 13). Aber es braucht auch innerhalb von Wohnungen Schutz- und Rückzugsräume vor denen, die mir eigentlich lieb und nahe sind, auf Dauer aber einfach zu viel werden. Einander Raum zu lassen ist eine praktische Gestalt der Liebe. In ihr geht es um die Kunst der „freiwilligen Selbstzurücknahme“ (Michael Welker). Das kann von der gebastelten Kuschelhöhle im Kinderzimmer (ohne Zutritt für „Große“) bis zur verabredeten Auszeit voneinander reichen. Es ist gut, wo immer es geht, mir selbst den Raum zu nehmen und anderen den Raum zu geben, den jede/r für sich braucht.

2. „Den Burgfrieden wahren“

In früheren Zeiten gab es die rechtliche Regelung des Burgfriedens. Demzufolge war es – besonders in Zeiten äußerer Gefahr – streng verboten, innerhalb des eingehegten Lebensraums der Burg Fehden und andere Streitereien fortzuführen. Vielmehr waren alle Parteien verpflichtet, den Gemeinschaftsbesitz und die Infrastruktur der Burg zu pflegen: von den Mauern über die Brunnen bis zu den Kapellen. Übertragen auf Wohngemeinschaften kann es hilfreich sein, sich den familiären Burgfrieden (das „Wir sind füreinander da“) neu zu vergegenwärtigen und zu verabreden. Reden hilft, wie immer, auch hier. So kann die Corona-Zeit dazu beitragen, dass Wir-Gefühl zu stärken.

3. „Feste Rituale pflegen – alltägliche und besondere“

Rituale geben dem Leben einen Rhythmus und der Seele einen Halt. In Zeiten innerer und äußerer Unruhe werden sie besonders wichtig. Das gilt für alltägliche Dinge: zu festen Zeiten aufstehen, essen, sich körperlich pflegen und bewegen, etwas lesen, Musik hören, „schöntun“, spielen, mit anderen etwas machen und ausreichend schlafen. Das gilt ebenso auch für religiöse Rituale, die eine heilsame Unterbrechung von den Sorgen-Kreisläufen in meinen Kopf darstellen: still werden, zur Ruhe kommen, beten und Gott klagen, bitten oder danken, was einem auf der Seele liegt. Davon sollten einen auch die eigenen Zweifel nicht abhalten. Hier kann man von den Menschen früherer Zeiten lernen und auch Worte und Sprache leihen, etwa die Psalmen. Denn was für die Zähne gilt, ist auch für die Seele richtig: Man sollte sie mehrfach täglich putzen.

4. „Lob, Blumen und andere kleine Zeichen bewirken oft große Wunder“

Wenn große Dinge ins Wanken geraten, gewinnen kleine Gesten oft eine besondere Bedeutung: ein Kompliment am Rande, eine Blume an meinem Arbeitsplatz, eine Aufmerksamkeit, mit der ich nicht gerechnet habe. „Frech achtet die Liebe das Kleine“ (Henning Luther). Freundlichkeit „en passant“. Es gibt Menschen, die dafür einen besonderen Sinn haben. Aber auch andere können die Kunst des vermeintlichen „Chichi“ üben und werden von der Wirkung überrascht sein.

5. „Aus dem Gravitationsfeld des kollektiven Bauchnabels heraustreten“

Als Menschen sind wir soziale, gemeinschaftsbildende Wesen, mit Aristoteles ein „Zoon politikon“. Oder biblisch formuliert: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ (1. Mose 2,18) Das gilt nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für das „kollektive Ich“ einer Familie oder Gruppe. Irgendwann kreist man dann nur noch um sich selbst. Deshalb ist es wichtig, sich der „Anziehungskraft des eigenen Bauchnabels“ immer wieder zu entziehen: rauszugehen, anderen zu begegnen (zurzeit natürlich nur einer Person und mit zwei Metern Abstand) oder virtuell zu kommunizieren (am besten mit Bild), um zu hören, sehen, fühlen, wie es den anderen geht. Das setzt manche eigenen Gedanken in die rechte Relation und verhindert einen „Sorgen-Tunnelblick“, gerade wenn man allein lebt. Die Corona-Zeit ist auch eine Chance, alte Freundschaften zu pflegen und neu Beziehungen zu knüpfen.

6. „Konflikte sind normal – man sollte sie ehrlich und achtungsvoll führen“

Wo Menschen zusammenleben, sind Konflikte nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Das ist in der Demokratie als einer Form des politischen „Konflikts in Permanenz“ ebenso wie in Familien. Es ist meines Erachtens gerade kein Zeichen von Liebe, sondern von romantisch-illusionärem Kitsch, wenn man glaubt, ohne Konflikte miteinander leben zu können. Familien wie Ehen tragen „in guten wie in schlechten Zeiten“. Zur Liebe gehört vielmehr, meine eigenen Macken, Kanten und Grenzen und die der anderen anzunehmen. Entscheidend ist, wie wir mit den Konflikten umgehen, wie wir „liebevoll streiten“. Dazu gehört es, ehrlich zu sein, Respekt und Achtung voreinander zu haben, die anderen wirklich verstehen zu wollen, weniger Schuld zuzuweisen als gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

7. „Niemals Gewalt – es gibt immer Hilfe von außen“

Gerade im unmittelbaren familiären Umfeld, im „sozialen Nahbereich“, ist Gewalt gefährlich und verletzend. Weil sie hier im privaten Schutzbereich ohne Fluchtmöglichkeit passiert, weil Täter und Opfer emotional bzw. familiär eng verbunden sind, weil die Gefahr der Wiederholung besteht, weil sie Menschen physisch, seelisch tief und dauerhaft verletzt. Deshalb gilt unbedingt: niemals Gewalt in der Familie. Darauf müssen vor allem die Überlegenen und Stärkeren achten, besonders in Ausnahmezeiten wie der aktuellen Pandemie. So verständlich Überbelastungen sind: Es gibt immer Hilfsmöglichkeiten von außen – von der Unterstützung bei konkreten Problemen über das Gespräch mit Bekannten, Lehrer/innen oder Pfarrer/innen bis hin zur Telefonseelsorge.

Das Wort „Koller“ für eine Anwallung von Zorn und Wut geht über das althochdeutsche Koloro, „Zorn, Bauchweh“, auf das lateinische Cholera, „Galle, Gallenflüssigkeit“, zurück. Ehe also die Körpersäfte cholerisch in einem verrückt spielen oder Konflikte eskalieren, sollte man sich körperlich, seelisch und emotional gut pflegen. „Lieber einmal durch den Wald gerannt als die Sicherungen zu Hause durchgebrannt.“ Das gilt entsprechend auch, wenn einem das Alleinsein zu viel wird und die Aggression droht, sich gegen einen selbst zu richten.

In einem der vielen Artikel zum Thema habe ich gelesen, dass die Corona-Zeit ein Lackmustest für die Gesellschaft sei. Ich glaube, dass sie – trotz der vielfältigen Belastungen und genannten Risiken – auch die Chance bietet, neu zu entdecken, wie viel Liebe, Hilfsbereitschaft und Zusammenhalt in anderen und mir selbst steckt. Gebe Gott, dass wir in den kommenden Wochen von uns selbst immer wieder positiv überrascht werden.

Mit herzlichen Grüßen

Dr. Thorsten Latzel
Direktor, Pfarrer

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