Wolfgang Geiger
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Aufgrund der massiven Gewalt gegenüber Schwarzen in den USA und Erfahrungen mit Racial Profiling und anderen Manifestationen von Rassismus auch hierzulande hat sich eine antirassistische Bewegung formiert. Eine ihrer konkreten Forderungen ist eine stärkere Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte auch im Unterricht. Es sei „unverständlich“, so heißt es in einer Petition an das Hessische Kultusministerium, „warum immer noch wichtige Teile der deutschen Geschichte ignoriert werden“ (siehe unten).
Auch Dr. Wolfgang Geiger, GEW-Mitglied, Lehrer an der Dreieichschule in Langen und Vorsitzender des Verbandes Hessischer Geschichtslehrerinnen und –lehrer, hält Verbesserungen für erforderlich, doch sei die deutsche Kolonialgeschichte mit entsprechenden curricularen Vorgaben „seit Jahrzehnten ein fester Bestandteil des Unterrichts.“
Redaktion der HLZ
Im Kerncurriculum für die Sekundarstufe I wurden 2010 ausformulierte Inhalte gegenüber der Kompetenzorientierung reduziert. Eine Konkretisierung der Inhaltsfelder ist schon länger angekündigt. Einer Intervention des Geschichtslehrerverbandes und des Historikerverbandes in Hessen war es damals immerhin zu verdanken, dass für das Fach Geschichte sogenannte „Basisnarrative“ ergänzt wurden, zu denen auch die Themen „Kolonialismus und Imperialismus“ sowie „Eigenes und Fremdes“ gehören:
„Untersucht wird der historische Prozess, (...) wie bestimmte Bevölkerungsgruppen gesellschaftlich zu ‚Anderen‘ oder ‚Fremden‘ konstruiert wurden und werden, so dass der ,Andere‘ in seiner ‚Fremdheit‘ als Bereicherung, aber auch als Konkurrenz oder Bedrohung empfunden wurde und wird.“
Gewiss fand vor allem Letzteres statt, gemeint ist mit der Formulierung aber, dass nicht immer alle Fremden unisono als Bedrohung empfunden wurden.
Gymnasiale Oberstufe
Präziser und darüber hinausgehend wird der Imperialismus im Kerncurriculum Gymnasiale Oberstufe (KCGO) thematisiert:
Im Themenfeld Q1.5 wird nicht nur auf die Kolonialgeschichte von Deutsch-Südwestafrika (Namibia) oder Britisch-Indien eingegangen, sondern explizit auch auf den Widerstand der Beherrschten, darunter den Herero-Aufstand, dessen Niederschlagung zusammen mit der Ermordung vieler Nama zum ersten Genozid des 20. Jahrhunderts führte.
In Q3.4 wird unter „Emanzipationsbestrebungen im 19. Jahrhundert“ auch die Sklavenfrage und -emanzipation in den USA aufgeführt.
Ebenfalls in Q3.4 geht es unter „Weltpolitische Entwicklungen“ auch um Unabhängigkeitsbewegungen und Dekolonisation.
Nicht alle Themen werden für das Abitur „aktiviert“, aber Deutsch-Südwestafrika und Herero-Aufstand waren seit der Einführung des KCGO drei Jahre in Folge dabei, wenn es bislang auch nicht zu einem entsprechenden Vorschlag im Landesabitur kam. Auch ich kann mir einen weniger konservativen Umgang mit dem thematischen Angebot des KCGO seitens der Landesabiturkommission vorstellen, doch das Auswahlprinzip ist der Tatsache geschuldet, dass die Themenpalette im Geschichtsunterricht immer mehr in die Breite und die pädagogischen Ansprüche immer weiter in die Tiefe gehen. Es gibt eine deutliche Horizonterweiterung auf globalgeschichtliche Themen, aber es gibt auch andere berechtigte Forderungen aus der nationalen Geschichte: mehr DDR-Geschichte, mehr Gendergeschichte, Einbeziehung anderer Opfergruppen der NS-Verbrechen u.a.
Wie Kolonialismus thematisiert wird, ist Gegenstand einer breiten Schulbuchkritik. Auf die Nennung einzelner Lehrwerke möchte ich im Folgenden verzichten, um eine singuläre Hervorhebung – negativ oder positiv – zu vermeiden.
Darstellung des Kolonialismus
Ein grundsätzliches Problem besteht darin, dass Afrika weiterhin als nahezu geschichtsloser Kontinent erscheint. Dieses Resultat des Sklavenhandels und der kolonialen Zerstörung einheimischer Kulturen seit dem 16. Jahrhundert diente im 19. Jahrhundert dazu, den Kolonialismus und den Auftrag zur „Zivilisierung“ zu rechtfertigen. Es reicht daher nicht, wenn in den Lehrbüchern der Kolonialismus verurteilt, aber die vermeintliche zivilisatorische Kluft zwischen Europa und Schwarzafrika aufrechterhalten wird. Fotos, die ausschließlich aus kolonialer Perspektive stammen, transportieren zumeist diskriminierende, gegenüber Frauen oft voyeuristische Absichten. Oft erscheinen sie in den Lehrbüchern als quasi natürlich oder repräsentativ. Nicht selten wird auch der kolonialistische Sprachgebrauch übernommen, wenn euphemistisch vom „Erwerb“ der Kolonien die Rede ist und von dort lebenden „Volksstämmen“ oder „Häuptlingen“. Es reicht auch nicht, bei der „Inbesitznahme“ von Land lediglich den geringen Kaufbetrag zu beanstanden, nicht aber den Vorgang als solchen zu analysieren. Es reicht auch nicht, Gewalt bis hin zum Völkermord gegen Aufständische, die Enteignung, KZ und Zwangsarbeit der Überlebenden zu verurteilen und gleichzeitig zu unterschlagen, dass Entrechtung und Enteignung bereits mit Beginn der Kolonialherrschaft begonnen hatten.
Selten kommen in den Mittelstufenbüchern schwarzafrikanische Stimmen zu Wort, sie bleiben meistens stumme Opfer der europäischen Geschichte ohne eine eigene Geschichte, weder vor noch nach der Kolonialzeit. Sie treten mit dem Kolonialismus ins Blickfeld und verschwinden mit ihm wieder. In der Kolonialära selbst sind sie Objekte europäischen Handelns und auch Porträts von Maharero oder Witbooi sagen wenig.
Hier gibt es eine deutliche Parallele zur Darstellung jüdischer Geschichte in den Schulbüchern, obwohl diese einen viel größeren Raum einnimmt, aber ebenfalls weit überproportional als eine Opfergeschichte erscheint. Dies ist seit Jahrzehnten Gegenstand der Kritik und zeigt im Vergleich, dass es keine Frage der Quantität, sondern vorrangig der Qualität ist.
Ein Schein von Multiperspektivität ist erkennbar, wenn Europäer als Befürworter und als Gegner der Kolonialpolitik beide Seiten repräsentieren oder wenn diese von heute aus verurteilt wird. Allzu leicht wird dieses dunkle Kapitel der Geschichte historisiert oder relativiert: Die deutsche Kolonialära habe schließlich nur kurz gedauert und es fänden sich „nur wenige deutsche Spuren“ der Kolonialgeschichte in Afrika und Asien. Ein Blick gerade nach Namibia heute sollte hier eines Besseren belehren.
In der jüngsten Generation der Oberstufenbücher zeigen sich dagegen quantitative und qualitative Verbesserungen mit einer kritischeren und differenzierteren Analyse, mit mehr Multiperspektivität durch Einbeziehung der Kolonisierten – manchmal leider noch zu wenig von all dem. Und es bleiben viele Fragen: Muss die britische Kolonialherrschaft in Indien mit dem Verbot der Witwenverbrennung de facto gerechtfertigt werden, die Zerstörung der einheimischen Wirtschaftsstruktur mit der Modernisierung der Infrastruktur? War der Imperialismus eine notwendige Etappe zur Globalisierung, die auch der „Dritten Welt“ durch Anbindung an den Weltmarkt zugutekommt? Dies ist eine neuralgische Stelle zwischen Sach- und Werturteil einerseits und der Verbindung zum Fach Politik und Wirtschaft andererseits, das die Verantwortung für das Thema Rassismus im aktuellen Kontext trägt.
Horizonte erweitern
Die politischen Folgen des Kolonialismus und die mentalitätsgeschichtlichen Nachwirkungen des Rassismus bis heute sowie der erinnerungskulturelle Stellenwert für uns alle bedürfen einer stärkeren Betonung. Deshalb wird auch in vielen aktuellen Veröffentlichungen auf die aktuelle Debatte zum Völkermord bezüglich Namibias hingewiesen. Die Horizonte müssen also in mehrfacher Hinsicht erweitert werden:
mit einer größeren globalgeschichtlichen Perspektive des Fachs Geschichte
mit einer kritischeren Herangehensweise an das Thema, vor allem im Hinblick auf Problemorientierung und Multiperspektivität
mit einer Verstärkung des Gegenwarts- und Aktualitätsbezugs im Bereich der Orientierungskompetenz
mit einer stärkeren fächerverbindenden Arbeit der drei gesellschaftswissenschaftlichen Fächer
Es ist deshalb bedauerlich, dass solche Synergien zwischen Geschichte und PoWi im KCGO 2016 konzeptionell versäumt wurden und Erdkunde durch den prekären Status in der Oberstufe kaum noch zum Tragen kommt.
Die Problematik, solche Ansprüche auch umzusetzen, soll nicht beschönigt werden. Was aber immer wie eine Forderung nach quantitativer Ausdehnung aussieht, lässt sich oft auch durch eine qualitative Verbesserung erreichen. Deshalb sind „intelligente Lösungen“ für die Nachjustierung von Prioritäten immer gefragt, wenn die „eine Welt“ auch adäquat im Bildungsprogramm ankommen soll.
Auf der Homepage des Verbands Hessischer Geschichtslehrerinnen und –lehrer gibt es eine ausführliche Zusammenstellung mit Informationen, Materialien und weiterführenden Links zum Thema Kolonialismus (www.geschichtslehrerverbandhessen.de/html/kolonialismus.html).
Petition ans Kultusministerium
Saba und David von der Initiative „Diasporas Voice“ haben auf der Plattform change.org eine Petition gestartet, in der sie sich dafür einsetzen, dass die Aufklärung über Rassismus und seine Wurzeln in der Schule verstärkt wird und „vielfältigere Perspektiven verpflichtend in den hessischen Lehrplänen integriert werden“. Zu ihren konkreten Forderungen gehören unter anderen:
deutsche Kolonialgeschichte und deutsche Migrationsgeschichte lehrenAntirassismustraining für Lehrer*innen und Schüler*inneneurozentrische Perspektiven aus dem Kunstunterricht und Geschichtsunterricht aufarbeiten und entfernenaufklären über eine respektvolle Sprache unter Ausschluss rassistisch konnotierter Begriffe in Lehrbüchern und im UnterrichtZugang zu Antidiskriminierungsstellen in der Schule
Im vollen Wortlaut: www.change.org > Suche: Kolonialgeschichte Hessen
Foto:
Nur wenige Spuren kolonialer Gewalt? Auf dem Weg zur Etoscha-Pfanne führt die Reise durch Namibia meistens am Fort Namutoni vorbei, das schon aus der Ferne eine eindrucksvolle Machtdemonstration der deutschen Kolonialherrschaft darstellt. Hier trafen Arbeitsuchende auf „Anwerber“, die sie mit falschen Versprechungen und Lügen zur Unterschrift drängten. Ab 1957 konnten Touristen in der Festung übernachten. Heute informiert ein kleines Museum kritisch über die Geschichte des Ortes. (Foto: Lonelyplanet CC-by-sa 3.0/de)
Info:
Wir danken der Redaktion der Hessischen Lehrerezeitung (HLZ) und dem Autor für die Genehmigung zur Veröffentlichung. Der Artikel erschien in HLZ 12/2020
Wir danken der Redaktion der Hessischen Lehrerezeitung (HLZ) und dem Autor für die Genehmigung zur Veröffentlichung. Der Artikel erschien in HLZ 12/2020