Deutsche Kolonialtruppe in Sudwestafrik am Ende des 19. JahrhundertsAktuelle Assoziationen zu einem biblischen Text

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Der "Offene Brief an die Missionare von Mariannhill", den Klaus Jürgen Schmidt am 22. Januar in WELTEXPRESSO veröffentlichte, hat auch zu Reaktionen vieler Leser direkt bei Klaus Philipp Mertens geführt. Er analysiert in WPO allwöchentlich politische Vorgänge und äußert sich regelmäßig zu theologischen und kirchlichen Themen. 29 Jahre seiner 45-jährigen verlegerischen und journalistischen Arbeit war er in der evangelischen Publizistik tätig. Im Folgenden geht er auf systematisch-theologische Aspekte zu den von Klaus Jürgen Schmidt aufgeworfenen Fragen an die katholische Mission ein, knüpft also an dem obigen ersten Artikel an und bekräfigt ihn. DIE REDAKTION

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Bertolt Brecht zählte die Bibel zu seinen Lieblingsbüchern.

Tatsächlich stellt sie eine Summe weisheitlicher Erfahrungen dar, die in einem Zeitraum von mehr als eintausend Jahren entstanden sind. Und sie provoziert ihre Leser sowohl mit ihrer klaren Sprache als auch mit ihrer vermeintlichen Widersprüchlichkeit. Über den jüdischen Wanderprediger Jesus, der das Volk zur Umkehr aufrief, notiert sie: „Und das Volk entsetzte sich über seine Lehre“ (Matthäus 7, Vers 28).

Ein ähnliches Entsetzen überkam mich, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, als ich Klaus Jürgen Schmidts „Offenen Brief an die Missionare von Mariannhill“ im „Weltexpresso“ vom 22. Januar las. Vor allem, als ich einer der von ihm genannten Fundstellen nachging. Da wird ein Pater Adalbert Balling zitiert, der ein Buch über seine Zeit als Missionar in Simbabwe (dem früheren Rhodesien) hinterlassen hat, das 1963 erschienen war.

„Ein seltsames Land, dieses Südrhodesien! In den Großstädten herrscht Überzivilisation und Luxus, und dicht daneben lungern Hunderttausende von schwarzen Industriearbeitern in ihren schmutzigen Slums. Damit sind wir bei einem der schwierigsten Probleme des modernen Afrika angelangt: bei den von Stammestum und Heimatboden entwurzelten Stadtnegern und Industriearbeitern.“

Und an anderer Stelle:

„Die Moral der Eingeborenen ist in den Massenunterkünften der Bergwerke und Großindustriezentren nicht allzu hoch. Hier liegen die Brutstätten der Rebellionen und Laster. Fern von den einheimischen Kraldörfern, fern von Familie und Sippe, führen die Schwarzen nicht selten ein liederliches Leben. Daneben sind kommunistische Agenten am Werk, die Eingeborenen aufzuhetzen. Die großen Rassenaufstände in Afrika haben in den Slums der Städte ihren Ausgang genommen.“

Über eine vergleichbare Missachtung von Menschen und deren sozialer Realität berichtet Heinrich Böll in seinem „Brief an einen jungen Katholiken“. Es geht um eine Einkehr für junge Wehrpflichtige im Jahr 1958. Die Kirchenmänner reden von Versuchung und meinen damit die Sexualität, allenfalls noch den Alkohol. Böll resümiert: „Kein Wort über Hitler, kein Wort über Antisemitismus, über etwaige Konflikte zwischen Befehl und Gewissen. Wir hatten unser geistiges Rüstzeug weg und schlichen durch die düstere Vorstadt nach Hause.“

Schweigen und Verschweigen scheint die Sache der katholischen Kirche zu sein. So findet man bei Pater Balling kein Wort darüber, dass die Afrikaner von den Kolonialherren ausgebeutet wurden, dass diese ihnen Behelfsunterkünfte am Rand der Städte zumuteten, anstatt menschenwürdige Wohnungen für die Arbeiter und ihre Familien zu bauen. Die Slums waren und sind bis heute die Folge einer sozialen Deklassierung. Und das so genannte Herumlungern ist das unübersehbare Zeichen für die verordnete Nichtteilhabe am Leben. Es war und ist eine bewusste Erniedrigung und es war und ist Rassismus.

Sorge bereitete den Missionaren offensichtlich vor allem die „kommunistischen Agenten“. Das war auch die Befürchtung der Priester, die den von Heinrich Böll geschilderten Einkehrtag bestritten. Der Satan offenbart sich in Sex, Alkohol und Kommunismus, so könnte man es verkürzt nennen. Anderes Elend scheint der katholische Teil der christlichen Welt nicht zu kennen.

57 Jahre nach dem Erscheinen von Pater Ballings Schrift sieht der Orden der Mariannhiller Missionare immer noch keine Notwendigkeit, sich von solchem Ungeist zu distanzieren. Nein, dieser Text steht auf der aktuellen Homepage der Gemeinschaft.
Und wenn man dort weiterblättert, fällt dem Betrachter ein Spendenaufruf besonderer Art ins Auge:

„Mein Name ist Maxima Wübbeling, ich bin 9 Jahre alt und lebe mit meinem Bruder Philipp und meinen Eltern Christian und Barbara in Reken im Münsterland. Ich lebe, obwohl in meinem Kopf ein bösartiger Krebstumor ist. Ich bin der Uniklinik Münster und unserem Gesundheitssystem sehr dankbar, weiß aber auch, dass es mich in ganz vielen Ländern unserer Welt nicht mehr gäbe.
Ich möchte nicht nur dankbar sein, ich will anderen Kindern Hoffnung spenden. Deshalb haben meine Eltern Kontakt zu den Mariannhiller Missionaren aus Maria Veen aufgenommen. Sie unterstützen schon lange die Menschen in Ostafrika, und wir haben zusammen drei Projekte ausgewählt, die unsere Hilfe wirklich dringend brauchen.
Allein schaffe Ich das nicht, aber mit Eurer Hilfe können wir diesen Kindern Zukunft geben. Eure Spende geht zu 100 Prozent in die Projekte, ohne Verwaltungskosten.“

Als ich das las, war ich erschüttert. Erschüttert über das Schicksal des Mädchens. Und erschüttert darüber, dass ein katholischer Missionsorden eine krebskranke Neunjährige instrumentalisiert, um Spenden für seine Afrikamission einzuwerben. Hier wurde Abhängigkeit erzeugt und Abhängigkeit ausgenutzt. Für mich ist das eine Form von Missbrauch.

Ein Kind dieses Alters und in dieser gesundheitlichen Situation kann nicht selbstständig entscheiden. So enthält der Spendenaufruf Formulierungen, die einem Kind dieses Alters wenig geläufig bis unbekannt sein dürften. Seine Eltern mit Vornamen zu nennen, ist ungewöhnlich. Mit dem Begriff "Gesundheitssystem" haben selbst ältere Heranwachsende Schwierigkeiten. Ebenso fällt die Umschreibung des Todes aus dem Rahmen: ".....dass es mich in vielen Ländern der Welt nicht mehr gäbe". Eine Neunjährige würde üblicherweise schreiben: "Wenn ich in Ostafrika leben würde und Krebs hätte, wäre es schwierig, ein Krankenhaus zu finden, dass mich behandeln könnte. Vielleicht wäre ich längst tot" oder so ähnlich.
Auch der Satz „... mit Eurer Hilfe können wir diesen Kindern Zukunft geben..." ist unglaubwürdig. So völlig uneigennützig war selbst Jesus nicht.

Zudem verfügt Maxima über keinerlei Kriterien, anhand derer sie die Missionsarbeit der Mariannhiller bewerten könnte. Wem wird geholfen. Und warum wird der Staat aus seiner Verpflichtung zur Daseinsvorsorge entlassen? Es widerspricht auch aller Lebenserfahrung, dass die Eltern eines so schwer erkrankten Mädchens ihr Kind als Werbesymbol offerieren. Vorstellbar wäre, dass sie nach besonderen Behandlungsmethoden suchen, die in Deutschland nicht verfügbar sind und für deren Finanzierung sie um Spenden bitten.

Dieser Aufruf fügt sich in ein falsch verstandenes Verständnis von Entwicklungshilfe, gar von Mission. Vielmehr ist er eine Fortsetzung des hinlänglich bekannten Kolonialismus im Gewand christlicher Scheinheiligkeit. Dafür gibt es keine Rechtfertigung. Keine christliche, keine katholische, keine säkulare.


Ich bin erinnert an eine der besonders menschenfeindlichen Abschnitte in der deutschen Geschichte. Das nachfolgende Lied aus dem „Demokratischen Liederbuch“ von 1898 entlarvt ein Missionsverständnis, das sich im Kontext des Kolonialismus bewegt:

"Bibel und Flinte"

"Was treiben wir Deutschen in Afrika?
Hört, hört!
Die Sklaverei wird von uns allda zerstört.
Und wenn so ein Kaffer von uns nichts will,
Den machen wir flugs auf ewig still.
Piff paff, piff paff, hurra!
O glückliches Afrika!

Wir pred'gen den Heiden das Christentum.
Wie brav!
Und wer's nicht will glauben, den bringen wir um.
Piff paff.
O selig die Wilden, die also man lehrt
Die »christliche Liebe« mit Feuer und Schwert.
Piff paff, piff paff, hurra!
O glückliches Afrika!

Wir haben gar »schneidige Missionär«,
Juchhei!
Den Branntwein, den Krupp und das Mausergewehr,
Die drei.
So tragen Kultur wir nach Afrika.
Geladen! Gebt Feuer! Halleluja!
Piff paff, piff paff, hurra!
O glückliches Afrika!"


Am Ende seiner Geschichte wirft Heinrich Böll seiner Kirche vor: „Die Theologie verweigert uns das Wort, von dem wir leben, und ob wir am nächsten Tag noch Brot haben, ist ohnehin fraglich. Unser Brot müssen wir uns selbst backen und das Wort uns selbst bereiten.

Foto:
Deutsche Kolonialtruppe in Südwestafrika am Ende des 19. Jahrhunderts
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