benjamin lappLegasthenie: Wörter schreiben, wie sie am schönsten aussehen

Benjamin Lapp

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Benjamin Lapp aus Bischoffen im Lahn-Dill-Kreis ist Legastheniker. Seine Eltern verhinderten, dass er im Grundschulalter auf eine Förderschule überwiesen wurde. Nach der Hauptschule und mit einem Gesellenbrief machte er – als erster aus einer Arbeiterfamilie - sein Abitur am Hessenkolleg. Jetzt hat er ein Masterstudium als Politologe abgeschlossen. Für die Hessische Lehrerzeitung der GEW, HLZ, beschreibt er seine Bildungsbiografie. Sie zeigt, dass der Kampf für mehr Chancengerechtigkeit noch lange nicht abgeschlossen ist, weshalb WELTEXPRESSO dies gerne nachveröffentlichen will.
Die Redaktion

Legasthenie ist nur ein Wort, doch beladen mit so viel Schwierigkeiten für mich. Gleichwohl war da von klein auf die Begeisterung für das geschriebene Wort, für all die Farbenpracht und Poesie, die die Sprache in sich trägt. Ich denke, diese Begeisterung, gerade für Lyrik, hat mir immer wieder sehr geholfen.


Von der „Sonderschulempfehlung“ ...

Gegen die pädagogische Empfehlung, mich an eine „Sonderschule“ zu verweisen, setzten sich meine Eltern dafür ein, dass ich weiter an einer Grundschule unterrichtet wurde. Rot geflutete Aufsätze waren eine unerquickliche Realität, insbesondere weil es sich ja durch Tischnachbarn zeigte, dass bei mir sehr viel falsch war. Deutschlehrer schlugen meinen Eltern vor, wenigstens meine Arbeiten nicht mehr zu benoten. Noch heute kann ich mich an die unnachgiebige Haltung meiner Mutter erinnern. Sie meinte: „Der Junge lernt und so soll er auch Resultate sehen und er wird sich über eine Vier so freuen wie andere über eine Eins oder Zwei“. Sehr unangenehm wurde es immer, wenn ich an die Tafel musste, um ein Wort anzuschreiben, das ich aus irgendwelchen Gründen nicht auswendig gelernt hatte.

Sie müssen verstehen, dass der Klang eines Wortes für mich etwas sehr Abstraktes darstellt. Ich habe – und mitunter ist dies heute noch so – Worte so geschrieben, wie sie am schönsten aussahen. Schlimmer als so mancher Kommentar aus der Klasse war es, wenn Lehrkräfte  meine Schwäche vor allen angeprangert haben.

Es ergab sich irgendwie folgerichtig der Weg in die Hauptschule und die feine Ironie war, dass ich mich hier ein wenig freischwimmen konnte. Natürlich war es nicht schön, dass Kontakte mit ehemaligen Mitschülern, die nun auf der Realschule oder dem Gymnasium verweilten, abbrachen. Aber in einem Klassengefüge, ohne von außen mit diesem Stempel versehen zu werden, war der Druck auf mir nicht mehr ganz so groß. Ich hatte eine Klassenlehrerin, die ich bis heute als Förderin bezeichnen möchte. Sie war eine Verfechterin, dass auch guten Hauptschülerinnen und Hauptschülern viele Türen aufstehen würden.

Nach der Hauptschule entschloss ich mich zu einer Lehre als Schreiner. Das Problem der Legasthenie rückte in dieser Zeit in den Hintergrund. Man musste nur funktionieren. Nach erfolgreicher Gesellenprüfung und einer Zeit als Geselle kam wahrscheinlich der entscheidendste Einschnitt bis dato. Aufgrund schlechter Auftragslage stand ich ohne Arbeit da und vor der Frage, was ich nun tun sollte. So entschloss ich mich, nach Weilburg an die Wilhelm-Knapp-Schule zu gehen und in einem Berufsaufbaujahr meine mittlere Reife nachzuholen.


... über das Abitur am Hessenkolleg...

Dieses Jahr hat mich rückblickend sehr geprägt, da dort Menschen von Anfang 20 bis Anfang 40 in einer Klasse zusammen waren. Ich war einer der jüngsten und sehr viel Lebenserfahrung und neue Eindrücke strömten auf mich ein.

Ich hatte nach diesem erfolgreichen Abschluss ehrlicherweise keinen Plan, was nun folgen sollte. Die erste Idee war, wieder in meinen alten Beruf zu gehen, doch ein Lehrer in Weilburg erzählte mir von einem Hessenkolleg in Wetzlar, an dem man sein Abitur nachholen könne. Ich und Abitur? Wie sollte dies gehen? Aber es ging und die drei Jahre am Hessenkolleg waren mit die schönste Zeit. Nicht, dass die Probleme mit meiner Rechtschreibung behoben waren, ganz und gar nicht. Aber dass man sich Mühe gab, herauszufiltern, was ich mitteilen wollte und nicht so sehr wie, baute mich immer mehr auf. Die Beschäftigung mit Lateinamerika und insbesondere mit der Lyrik von Pablo Neruda, Ernesto Cardenal und Gioconda Belli hatte einen sehr prägenden Einfluss auf mich.

Als die Hochschulreife erlangt war, hatte ich den Eindruck, der Einzige zu sein, für den nicht klar war, was nun folgen sollte. An eine Universität gehen? Ich kann nicht in Worte ausdrücken, wie weit diese Idee entfernt von mir war. Ich hatte den Eindruck, nicht dorthin zu gehören.


... bis zum Magister Artium

Eine Zeitlang arbeitete ich bei der Müllabfuhr, um den Kopf freizubekommen, und verschob die Einschreibung an der Justus-Liebig-Universität in Gießen bis auf den letzten Moment. Ursprünglich wollte ich nur ein Semester bleiben. Doch aus einem wurden ein paar Semester mehr und ich konnte die Universität mit einem Magister Artium in Politikwissenschaft verlassen, was mich unendlich glücklich machte. Doch erst nun mit der ersten Veröffentlichung eines Gedichts von mir hat sich ein Kreis geschlossen.



Die Neutralität der Träne 

Manchmal ist es so viel leichter zu weinen,
viel leichter als zu lachen.
Tränen fallen lautlos.

Sie sind unschuldige Geister
eines unwillkürlichen Moments der Gefühle.
Sie begreifen nicht,
den Ausgangspunkt ihrer Reise.

Manchmal ist es heilend zu lachen
und den Tränen zum Abschied
ein Lächeln zu schenken.


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Der Autor
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Info:
Ein Gedicht von Benjamin Lapp erschien 2020 im Jahrbuch für das neue Gedicht in der Frankfurter Bibliothek der Brentano-Gesellschaft. Weitere Gedichte findet man unter anderem in der österreichischen Online-Zeitung „Unsere Zeitung – Die Demokratische“ (www.unsere-zeitung.at > Benjamin Lapp)

Wir danken Autor und der HLZ für die freundliche Genehmigung zum Abdruck dieses Artikels aus:  HLZ, Mitgliederzeitschrift der GEW Hessen, Heft 3/2021, Seite 30