altena jugendherberge.deJugendherbergswerk in Hessen: Kurzarbeit und erste Notverkäufe

Maike Wiedwald

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - WELTEXPRESSO hatte vor Jahren zum hundersten Geburtstag der Einrichtung Jugendherberge über die Burg Altena in Nordrhein-Westfalen berichtet, wo die erste Jugendherberge, die noch heute betrieben wird, entstand. Wir hatten damals den Zusammenhang mit der Reformpädagogik, mit der Wander- und Gesundheitsbewegung herausgestellt, denn es waren Schulklassen, die ab da die Jugendherbergen bevölkerten. Die ganze Coronazeit über macht sich auch die WELTEXPRESSOredaktion Gedanken darüber, wie die Jugendherbergen angesichts von Kontaktverboten und weiteren Coronaauflagen überleben können. Wir freuen uns deshalb, daß wir den folgenden Beitrag der hessischen Vorsitzenden der Gewerkschaft und Wissenschaft (GEW) übernehmen dürfen.

jugendherberge.detischeKlassenfahrten, Ausflüge oder Projekte an außerschulischen Lernorten bereichern das Schulleben. Sie bieten vielfältige pädagogische Möglichkeiten jenseits des Schulalltags, vor allem auch bezogen auf soziale Lernprozesse. Gleichzeitig eröffnen Klassenfahrten Kindern und Jugendlichen aus benachteiligten Familien die Möglichkeit, andere Städte zu erkunden oder neue sportliche Inhalte zu erproben. Auch im eher reichen Bundesland Hessen leben viele Kinder und Jugendliche in Armut, mehr als jedes siebte Kind ist von Armut betroffen. Armut beschämt und grenzt aus: kaum Taschengeld, kein Computer, kein Kino und oft auch kein Geld für eine Klassenfahrt.

Auch wenn die Kosten für die Klassenfahrten im Bedarfsfall übernommen werden, gilt dies nur bis zu einem Höchstbetrag im gesamten Jahr. Oft reicht dieses Geld nur für eine Fahrt. Gerade aus diesem Grund engagierten sich viele Lehrkräfte, kostengünstige Angebote zu finden, an denen alle Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse teilnehmen können. Wichtig sind also wohnortnahe, preisgünstige Alternativen. Jugendbildungseinrichtungen mit eigenem pädagogischem Personal und eigenen Übernachtungskapazitä­ten werden von Kommunen, Vereinen, Verbänden und den freien Trägern im Bereich der Jugendhilfe wie der Naturfreundejugend oder der Sportjugend betrieben. Der wichtigste Anbieter ist und bleibt das Deutsche Jugendherbergswerk (DJH).

jugendherberge.deVom Mief der schmucklosen, eintönigen Mehrbettzimmer mit Bad auf dem Flur in abgelegenen Gebieten haben sich die Jugendherbergen längst befreit. Heute bieten sie ein vielseitiges sowohl natur- als auch stadtnahes Programm mit sportlichen, kreativen, teamorientierten, theaterpädagogischen oder naturpädagogischen Schwerpunkten.

2019 verfügten die 32 hessischen Jugendherbergen über 5.340 Betten und verzeichneten fast 300.000 Gäste. Fast 40 Prozent aller Übernachtungen entfallen auf Schulklassen.

Ab März 2020 ging dann – wie in vielen gesellschaftlichen Bereichen – auf einmal nichts mehr. Knut Stolle ist im DJH Hessen für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig und bis heute sehr bewegt, wenn er sich an die unfassbare Situation im März 2020 erinnert:

evangelisch.de„Wir hatten innerhalb von sieben Tagen 130.000 stornierte Übernachtungen. Das war wie eine Lawine, die nicht aufzuhalten war.“

Bei Schulfahrten und Seminaren, dem wichtigsten Bereich der Jugendherbergen, wurden 90 Prozent der Buchungen storniert. Von einem Tag auf den anderen ging die Zahl der neuen Buchungen auf Null. Ebenso gut in Erinnerung ist ihm die Situation im Sommer 2020:

„Als 21 Häuser ihren Betrieb endlich wieder aufnahmen, haben wir uns alle gefreut. Doch nur drei Stunden später untersagte der hessische Kultusminister Klassenfahrten bis Ende Januar. Für uns war das ein Dämpfer, wir waren alle ungeheuer emotional aufgewühlt. Wir hatten und haben alle großes Verständnis für diese Entscheidung der Landesregierung auf politischer Ebene. Gleichzeitig machen wir uns aber ungeheure Sorgen um die Zukunft der Jugendherbergen und damit auch unsere eigene berufliche Perspektive.“


Kurzarbeit und Schließungen

Seit April 2020 sind die 450 Beschäftigten des Verbands alle in Kurzarbeit. Seit der Anordnung der weiteren Schließung ab Anfang November sind die meisten auf Kurzarbeit Null. Stolle schätzt die „Loyalität, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dem Unternehmen entgegenbringen“, weiß aber auch um die extremen Belastungen für jede einzelne Beschäftigte und jeden Beschäftigten.

Aus Kostengründen musste die Geschäftsstelle in Frankfurt aufgegeben und im November 2020 in die Jugendherberge Bad Homburg verlegt werden. Die Jugendherbergen in Weilburg, Gießen und Zwingenberg mussten schließen, die Jugendherberge in Linsengericht musste verkauft werden. Die Neubaupläne der Häuser in Marburg und Rüdesheim liegen erst einmal auf Eis. Die dafür gebildeten Rücklagen wurden jetzt für die Krisenbewältigung benötigt und müssen erst wieder aufgebaut werden. Verschärfend kam hinzu, dass das DJH auch durch das Raster der Rettungsschirme von Bund und Land fiel:

„Das Sozialministerium wertete die einzelnen Jugendherbergen nicht jeweils als ein Kleinunternehmen, sondern als Gesamtunternehmen. Die Hessische Landesregierung hat dann eine Extra-Soforthilfe für uns von einer Million Euro beschlossen.“

Die Höhe der Soforthilfe für die einzelnen Jugendherbergen orientierte sich dabei an der Corona-Soforthilfe von maximal 30.000 Euro pro Unternehmen. Den Umsatzrückgang für 2020 beziffert Stolle auf rund 75 Prozent.

Bei Redaktionsschluss dieser HLZ Mitte Februar 2021 gab es nur in einigen der verbleibenden 25 Jugendherbergen ein wenig Betrieb. In den Jugendherbergen in Büdingen und Grävenwiesbach leben vor allem Familien von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern, um ihnen zu Coronazeiten eine Wohnmöglichkeit mit Abstand zu bieten. Knut Stolle betont, dass die hessischen Jugendherbergen sich auch in einer sozialen Verantwortung sehen und genau hier die Kommunen konkret noch mehr unterstützen könnten.


Gute Hygienekonzepte

Die Hygienekonzepte in den hessischen Jugendherbergen sind gut, berichtet Stolle:

„Wir haben die Zimmer auch im Sommer nicht voll belegt, maximal zu 60 Prozent. Essenszeiten und -pläne wurden erweitert, Seifen- und Desinfektionsspender an vielen Stellen aufgebaut, das Tragen von Masken und die Einhaltung von Abstandsregelungen sind Pflicht. Es wurden weitere Hygienemaßnahmen ergriffen, wenn möglich wurden Angebote nach draußen verlegt.“

Das Hygienekonzept richte sich nach den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts und der Berliner Charité und sei gut und praxistauglich. Im Gespräch betont Stolle, dass Stornierungsfristen deutlich verändert worden seien:

„Für alle Schulfahrtenbuchungen gilt nun sogar bis zum 31.12.2022 ein kostenloses Rücktrittsrecht bis 28 Tage vor der Anreise – egal aus welchen Gründen. Und wenn dann doch noch eine Klassenfahrt unmöglich sein sollte, weil zum Beispiel das Gesundheitsamt ein Fahrtenverbot aussprechen sollte, kann noch bis zum Anreisetag kostenfrei storniert werden. Zudem verzichten die hessischen Jugendherbergen bis Jahresende 2022 auf jedwede Anzahlung für die Klassenfahrten. So reduziert sich auch finanziell das Risiko einer Buchung für die Schülerinnen, Schüler und Eltern noch einmal deutlich.“

Stolle hofft wie alle Mitarbeiterinnen, Mitarbeiter und Freunde des DJH, dass diese Maßnahmen auch Lehrkräften Mut machen, „Klassenfahrten für den Herbst 2021 wieder in den Blick zu nehmen, ohne individuelle Risiken einzugehen“. Die Möglichkeit für eine kostenfreie Stornierung soll mit etwas größerem Vorlauf auch für die folgenden Jahre bestehen:

„Somit kann aktuell absolut risikofrei gebucht werden, um die Wunschklassenfahrt zu sichern. Die finale Reiseentscheidung kann dann individuell und je nach Situation später auch noch einmal neu bewertet werden.“


„Klassenfahrt nach Hause“

In den Jugendherbergen stehen im Moment viele Räumlichkeiten leer. Gleichzeitig fehlt dieser Raum oft in den Schulen, um mit ausreichend Abstand Unterricht durchführen zu können. Unter dem Titel „Klassenfahrt nach Hause“ bieten alle hessischen Jugendherbergen besondere lokale Angebote an. Die Schulklassen können so für einen oder auch mehrere Tage tagsüber in die örtliche Jugendherberge kommen, um ein Teamtraining oder einen Abenteuertag zu erleben: „Floß bauen“ in Rothenburg an der Fulda, „Seifenkistenbau“ in Limburg, „Laser-Biathlon“ in Willingen oder einen „Umwelttag am Eder-See“. Stolle hält solche Angebote gerade für die Zeit nach dem Distanz- und Wechselunterricht und dem Homeschooling für sinnvoll und förderlich, „um die Schülerinnen und Schüler wieder als Gemeinschaft zusammen zu bringen“.

Dabei bietet das DJH Schulen, die mit mehreren Klassen kommen, an, eine Jugendherberge „exklusiv“ nur für ihre Schule zu buchen. So lassen sich Klassenfahrten oder Projekttage auch in Pandemiezeiten so sicher wie der Unterricht in der eigenen Schule umsetzen. Weitere Informationen zu diesem Angebot findet man unter https://hessen.jugendherberge.de > Klassenfahrt nach Hause.

Soziale Lernprozesse kommen in den Zeiten von Distanzunterricht und Abstandhalten oft zu kurz. Das lässt sich im Moment nicht ändern, denn der Gesundheitsschutz aller Beteiligten hat absolute Priorität. Aber wir müssen jetzt in den Schulen planen, wie Schülerinnen und Schüler wieder die Möglichkeit für soziale Lernprozesse erhalten und nutzen können. Und da gehören Klassenfahrten unbedingt dazu! Um sie durchführen zu können, brauchen wir Jugendbildungseinrichtungen mit Übernachtungsangeboten, in denen Schulklassen, Sportgruppen, Chöre und andere Jugendgruppen kostengünstig unterkommen können.

wiedwald
Wir brauchen die Jugendherberge

Die hessische Landesregierung, aber auch die Städte und Kommunen sind jetzt gefordert, sich dafür einzusetzen, dass diese Strukturen erhalten bleiben. Die Naturfreundehäuser und die Häuser der Sportjugend gehören genauso dazu wie die Jugendherbergen. Dieser Bereich der Kultur, den sich möglichst viele leisten können sollten, darf nicht kaputt gehen und muss deshalb finanziell unterstützt werden. So könnten das Land Hessen, die Städte und die Kommunen finanzielle Mittel bereitstellen, um Angebote des sozialen Lernens für die Schülerinnen und Schüler kostenfrei durchführen zu können, und so zugleich einen Beitrag zur Rettung der hessischen Jugendherbergen leisten.


Fotos:
alle Altena©jugendherberge.de
Beim Schlafsaal ist anzumerken, daß dieser heute historisch ist. Die heutigen Übernachtungen sehen anders aus!
Maike Wiedwald©hlz


Info:
Maike Wiedwald ist Landesvorsitzende der GEW Hessen
aus: HLZ, Mitgliederzeitschrift der GEW Hessen, Heft 3/2021