... und was ein Bremer Kultursenator für deutsche Schüler schon 1996 voraussah

Klaus Jürgen Schmidt

Nienburg/Weser (Weltexpresso) – "Bildung ist ein Menschenrecht, das wir verwirklichen müssen!" Das sagte mir 1984 ein Beamter der zimbabweschen Botschaft in Bonn bei der Vorbereitung auf meinen Einsatz als Medien-Berater in seinem Land. Zuvor hatte er stolz auf die sprunghaft angestiegene Zahl von Schülern an den weiterführenden Bildungseinrichtungen seit der Unabhängigkeit Zimbabwes verwiesen. "Was denn die vielen hunderttausend Abgänger mit Mittelschulabschluss anschließend tun werden, vor allem jene, die das Ziel nicht erreichen?" hatte ich gefragt


Es war natürlich nicht nur ein Denkfehler, das Schulsystem, das in diesem Land nahezu ausschließlich für die Kinder der Weißen und der schwarzen Elite zugänglich gewesen war, weiterzuführen. Es hätten völlig neue Lehrpläne ausgearbeitet, die Lehrkräfte umgeschult, Millionen neue Schulbücher entworfen und gedruckt werden müssen. Woher das Geld nehmen und – die Erfahrung?

Sie nahmen die Lehrer aus Australien, Neuseeland, Kanada, Großbritannien, Mauritius und aus der Bundesrepublik Deutschland. Einhundert waren von dort gerade eingeflogen, als meine Familie in Zimbabwe eintraf. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass es sich bei dem dafür geschlossenen Abkommen zwischen den Regierungen in Bonn und Harare eher um Entwicklungshilfe für den bundesrepublikanischen Arbeitslosenmarkt handelte: Die jungen Leute waren in ihrer Mehrheit Opfer verfehlter Bildungsbedarfsplanung westdeutscher Kultusminister und verfügten kaum über längere Berufserfahrung. Die bezahlte ihnen die zimbabwesche Regierung mit einem monatlichen Scheck, dessen Betrag zwar nicht höher war, als das minimale Gehalt ihrer schwarzen Kollegen, aber Bonn zahlte ein „topping up“, den Ausgleich zum fälligen deutschen Gehalt – aus Entwicklungshilfemitteln!


Ich hatte schon bald die seinerzeit zuständige Bildungsministerin getroffen. Ihr Name: Fay Chung.
Sie wurde in der britischen Selbstverwaltungskolonie Südrhodesien in der dritten Generation einer chinesischen Einwandererfamilie geboren.Chung wuchs in den 1950er Jahren in einer römisch-katholischen chinesischen Familie in Rhodesien (heute Zimbabwe) auf und wurde an der Universität von Zimbabwe (damals als Universität von Rhodesien bekannt) als Pädagogin ausgebildet. 1968 erwarb sie ihren Abschluss in Pädagogik und einen Master in Philosophie in englischer Literatur an der University of Leeds.

Jetzt – in ihrer Eigenschaft als Bildungsministerin – bekam sie Besuch von einem Kollegen aus Deutschland. Ihr Besucher war 1946, nach der Vertreibung aus Schlesien, Landarbeiter in Niedersachsen gewesen, hatte dann bis 1951 eine Lehre als Mechaniker absolviert und war im selben Jahr nach Bremen übergesiedelt. Hier war er in verschiedenen Großbetrieben tätig. Seit 1954 besuchte er das Abendgymnasium und schloss dieses mit dem Abitur ab. Er studierte dann Germanistik, Geschichte und Politikwissenschaft an den Universitäten Münster und Marburg. Er schloss sein Studium 1959 mit dem Staatsexamen für das Lehramt ab und trat in den bremischen Schuldienst ein. Zuletzt war er an einem Bremer Gymnasium als Oberstudienrat tätig.


1967 wurde er in die Bremische Bürgerschaft gewählt und gehörte ihr bis zu seiner Wahl in den Senat 1975 an. In der Zeit der Schüler- und Studentenunruhen war er ein dominierender Vertreter seiner Partei.

Das Foto zeigt ihn bei einer studentischen "Konfetti-Attacke".

1975 wurde er im Senat von Hans Koschnick (SPD) Senator für Wissenschaft und Kunst, ein neuer Senatsbereich. Er konnte die großen Spannungen bei der Gründung der Universität Bremen ausgleichen und engagierte sich erfolgreich für eine auch wissenschaftlich-technische Ausrichtung. Ab 1983 übernahm er zusätzlich das Bildungsressort. Im Bremer Schulwesen führte er die Stufenschule sowie Ganztagsschulen ein und strebte eine Ausweitung der Gesamtschulen zulasten klassischer Gymnasien an. 

Der Senator Horst-Werner Franke war als Vorsitzender der westdeutschen Kultusminister-Konferenz nach Harare gekommen, um sich über die Arbeit der entsandten deutschen Lehrer zu informieren. Da hatte mir schon einer von ihnen berichtet: „Als ich am ersten Morgen eine Schülerin aufrief, trat sie vor mich, gebückt, und fiel auf die Knie. Zuerst dachte ich, sie hätte sich verletzt, aber dann merkte ich bald, dass es die übliche Ehrbezeugung ist – vor dem Lehrer knien.“


Und ich hatte zugehört, was Fay Chung den Ankömmlingen aus dem deutschen Lehrerstand zu sagen hatte:  „... Wir haben eine ziemlich hohe Arbeitslosigkeit. Wir glauben deshalb, dass wir nicht nur im Regierungs- und Privatbereich und durch ausländische Investitionen im Industrie- und Produktionssektor Beschäftigung erreichen müssen, sondern dass auch im Bildungsbereich die Herausforderung angenommen werden muss, dass unsere jungen Menschen vor allem im Sekundarbereich, aber auch im höheren Bildungsbereich ein Training erhalten, das es ihnen ermöglicht, alle Gelegenheiten in einer wachsenden Wirtschaftsstruktur wahrzunehmen.“
Ein Erfordernis, das mit der Einführung einfacher Berufsausbildung in der Sekundärstufe schon erkannt worden war. An 300 Sekundärschulen wurde bereits der Umgang mit simplen Werkzeugen geübt, an weiteren 100 Schulen war das Training an komplizierterem Gerät eingeführt. Während sich aber Zimbabwe mit einer Öffnung zum Weltmark konfrontiert sah und dafür den raschen Anschluss an industrielle Bildungsinhalte dringend benötigte, war die koloniale Vergangenheit noch längst nicht überwunden.
„Wir haben ein koloniales Bildungssystem geerbt,“ sagte Ministerin Fay Chung weiter, „in dem Schwarze als Diener erzogen wurden. Das war eine feine Sache in der Kolonialzeit, aber heute mag es sein, dass es keine Bosse gibt, die befehlen können. Wir erziehen Leute, die Entscheidungen für sich selber treffen sollen, die bestimmen sollen, wie sie ihre eigenen Gemeinschaften entwickeln können, wie sie Programme für die Produktion, für den Gesundheitssektor, für den Ernährungs- oder den Bildungsbereich initiieren können. Wir brauchen eine neue Art von Bildung, die mit der Idee Schluss macht, Schwarze seien Diener. Wir brauchen eine Erziehung, die Schwarzen Eigenständigkeit vermittelt, ihnen hilft, ihr eigenes Land zu entwickeln – beginnend in ihrem eigenen Dorf, ihrer eigenen Gemeinschaft – beginnend exakt dort, wo wir uns jetzt befinden.“

Aber Fay Chung war selber lange genug Lehrerin gewesen, um die Stolpersteine auf diesem Weg genau zu kennen, die Versuchung junger Menschen nämlich, nach Abschluss der Schulausbildung ihrem Dorf den Rücken zu kehren. Und so gab sie den deutschen Lehrern damals einen wichtigen Rat mit auf den Weg: „Die Schule muss sich an dörflichen Entwicklungsprogrammen beteiligen, damit die Schüler während ihres Bildungsprozesses ihre Verantwortung verstehen und es akzeptierten, an der Veränderung ihrer Gesellschaft mitzuwirken – weg von der feudalen und kolonialen Vergangenheit, hin zum modernen Zeitalter.“

Fay Chung schied im Konflikt aus dem Regierungsdienst. Sie nahm Aufgaben bei UNICEF und bei UNESCO wahr, bevor sie 2003 in ihre Heimat Zimbabwe zurückkehrte.

Und der Bremer Senator Horst-Werner Franke, der sich selber gerne „Thomas“ nennen ließ ... als den „ungläubigen Thomas“?

Ich traf ihn bei einem Deutschland-Besuch wieder – zufällig – im Dom zu Bücken (von Bremen weseraufwärts in Niedersachsen).
An einem Sonntagmorgen hatte ich zuerst seine Stimme erkannt, er hatte für den Pastor einen Bibel-Text gelesen. Als er mit dem Klingelbeutel herumging, erkannte er mich.
Auch er hatte sich mit der Politik überworfen, erfuhr ich bei ihm zu Hause – in einem renovierten alten Dorf-Schulhaus.
Ich traf ihn nicht noch einmal – er starb im Dezember 2004.
Bei jenem Besuch im umgebauten alten Schulhaus hatte er mich auf etwas aufmerksam gemacht, das sich heute wie sein bildungspolitisches Testament liest. Ich hatte es mir damals gleich abgespeichert, im Internet ist es jetzt nicht mehr zu finden:

Schulen der Zukunft – zwischen Bildungsauftrag und Edutainment?

(Vortrag auf der Internationalen Sommeruniversität Münster-Osnabrück 1996, gehalten am 10. September 1996 an der Universität Osnabrück)

> ... Die Schule, wie wir sie im Augenblick vorfinden, ist im wesentlichen eine Schule, die sich, etwas überspitzt formuliert, in den letzten Jahrhunderten nicht so wesentlich verändert hat. Seit der Zeit des Mittelalters steht der Lehrer mit der vor ihm versammelten Schülerschar im Mittelpunkt des Geschehens. Wenn ein Lehrer von damals in einer Zeitreise in eine Schulklasse von heute käme, würde er natürlich eine ganze Menge von merkwürdigen Dingen entdecken, die er nicht kennt, aber die Grundstruktur, wie er mit Schülern umgeht, ist im wesentlichen gleich geblieben. Das ist auch die Einschätzung von Bildungsreformern. Allen Reformansätzen zum Trotz, hat die Schule ein großes Beharrungsvermögen bewiesen und sich im wesentlichen in den alten Strukturen, zwar ein wenig weiterbewegt, aber nicht prinzipiell geändert.

Eine wirkliche Bildungsreform, die diesen Namen verdient, könnte man auf eine kurze Formel bringen: sie zielt darauf, die Schüler nicht zum Objekt der Bildungsbemühungen, sondern zum Subjekt zu machen, den Einzelnen also zu einem wirklich handelnden Subjekt zu befähigen, der von sich aus agiert, das Notwendige lernt und etwas Vernünftiges unternimmt. Alle Reformansätze in dieser Richtung haben leider bisher keine ausreichende Breitenwirkung erzielen können. Die Gründe dafür kann man vielleicht sehr vereinfacht auf den Punkt bringen, daß wir keine Werkzeuge, keine Mittel zu einer durchschlagenden Reform in der Weise besessen haben, die tatsächlich ein neues Rollenverständnis für Lehrer und Schüler mit sich gebracht hätte.

Die Situation, dass vor der Klasse oder Gruppe eine Lehrperson steht und doziert und die anderen zuhören müssen, ist von den Möglichkeiten her, über die wir bislang verfügt haben, nicht radikal aufzubrechen. Allerdings scheint es in der gegenwärtigen Situation zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte Ansätze, Möglichkeiten oder Vehikel zu geben, die eine völlig neue Unterrichtssituation für die Schule ermöglichen. Die Einführung der neuen elektronischen Medien in den Unterricht wird von den verschiedensten Stellen enthusiastisch begrüßt und als die Möglichkeit zur radikalen Umgestaltung von Schule gesehen. Vielleicht leben wir im Augenblick in so einer Art Zwischenzeit, in der eine jahrhundertelange Schulentwicklung zu Ende zu gehen scheint und sich eine völlig neue Form von Schule abzuzeichnen beginnt. Wenn man diese neue Form von Schule versucht, visionär oder utopisch zu beschreiben, dann könnte man meinen, zunächst einmal große Begeisterung dafür zu finden. Im Schulalltag sieht das jedoch in der Regel anders aus.

Wenn Schüler mit den neuen elektronischen Medien im Unterricht bekanntgemacht werden, dann geschieht das bei uns im Augenblick in der Regel dadurch, dass man bestimmte Unterrichtseinheiten zur Verfügung stellt und sagt, so hier in diesem Punkte werdet ihr die elektronischen Medien einmal kennenlernen. Diese Einführung in ein neues Feld wird dann in der Regel nur als eine Art Fachunterricht verstanden. Das, was jedoch eigentlich für die neue Form von Schule gemeint sein könnte, ist etwas anderes. Es zielt auf eine völlige Auflösung der bisherigen Unterrichtsstruktur, eine völlige Abkehr von dem Prinzip eines geplanten, reglementierten, von einem Lehrplan und einem Fundamentum bestimmten Unterrichts. Die Schule von morgen könnte so aussehen, dass jeder Schüler sich mit Hilfe der elektronischen Medien seine eigene Wissensentdeckungsreise selber zusammenstellt. ... <

Es bedurfte einer Pandemie, die Ideen eines „UNGLÄUBIGEN THOMAS“ Praxis werden zu lassen  ...  technisch! Jetzt fehlt noch der Kompass für "eigene Wissensentdeckungsreisen" von Schülern. 


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