Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives im deutschen Bad Arolsen, über das weltweit bedeutendste Archiv zu NS-Verfolgten
Yves Kugelmann
Bad Arolsen (Weltexpresso) - tachles: Mit dem 2020 lancierten Programm «Jeder Name zählt» wollen Sie Erinnerung aktiv halten und neue Formen des Gedenkens finden. Funktioniert der Wandel vom Archiv zum aktiven Gedenken?
Floriane Azoulay: Ja. Die in unserem weltweit größten Archiv über NS-Verfolgte online vorhandenen Dokumente sind nicht a priori frei zugänglich, dafür müssen sie indiziert werden. Das heisst, dass die persönlichen Angaben über die darin erwähnten Opfer erfasst werden müssen – eine gigantische Aufgabe, wir reden von über 30 Millionen Dokumenten. Also war klar, dass wir die Öffentlichkeit um Unterstützung bitten müssen. Dabei konnten wir feststellen, dass diese Initiative vor allem bei Jugendlichen viel Begeisterung weckt, die zwar mit der NS-Zeit keine direkten Berührungspunkte haben, aber etwas für das Gedenken machen möchten. Sie können nun nach Belieben Zeit zur Verfügung stellen, um Dokumente zu erfassen. Das ist nicht schwierig, man lernt dabei und leistet etwas, das dauerhaft ist. Mittlerweile haben wir viele Berichte von Teilnehmenden, die durch das Erfassen der Daten und damit das Entdecken der Identität von Opfern, die sie so digital für immer zugänglich machen, berührt sind. Dazu kommt die Wissenskomponente, denn die von uns aufbewahrten und ins Netz gestellten Dokumente sind Täterdokumente mit vielen Inhalten, die sich nicht einfach erschliessen. Das bedingt Recherchearbeit der Teilnehmenden, die dadurch enorm viel über die nationalsozialistische Verfolgung lernen. Wir holen mit dem Projekt Jugendliche dort ab, wo sie stark sind, nämlich im digitalen Bereich.
Das Arolsen-NS-Archiv ging aus einem 1943/44 erstaunlich früh gegründeten Suchdienst hervor, noch vor den Nürnberger Prozessen und der Menschenrechtsdeklaration. War demnach das nötige Bewusstsein damals schon vorhanden?
Ja, damals war das Bewusstsein unter den Alliierten sehr stark, dass man die Dokumentation sichern musste, damit die Verbrecher verurteilt und bestraft werden konnten. Die Dokumente wurden gesammelt, während sie Deutschland nach und nach befreiten. Dazu war aber auch klar, dass Familien auseinandergerissen worden, sehr viele Leute verschollen waren und dass man diese finden musste. Dazu griffen die Alliierten auf die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg zurück: Es brauchte diese Dokumente, um einen internationalen Suchdienst aufstellen zu können. Das waren die zwei Beweggründe für das Entstehen dieser riesigen Dokumentation.
Darüber hinaus können die Dokumente ja aber auch als Beweisstücke für rechtliche Ansprüche, etwa Sammelklagen auf Restitution, dienen. Wie relevant ist das heute noch?
Dieser Aspekt war im Lauf der Jahrzehnte sehr wichtig. Man sah Wellen von Anfragen auf den damaligen Internationalen Suchdienst zukommen, um Entschädigungen, Erstattungen oder Anerkennungen von Staatsangehörigkeiten zu erlangen. Die Institution spielte auch eine sehr wichtige Rolle bei der Mitgestaltung der Wiedergutmachungspolitik der Bundesrepublik. Und es kommen auch heute noch viele Anfragen; meist geht es darum, dass man Ansprüche begründen möchte.
Ist Arolsen derzeit in grösseren internationalen Verfahren, etwa zur Aufarbeitung der Zwangsarbeit, noch aktiv involviert?
Ja, sind wir, und wir werden immer wieder als Experten beigezogen. Wir unterstützen auch sehr aktiv Firmen und Stiftungen, die Nachfolger von solchen sind, die Zwangsarbeiter beschäftigt hatten und jetzt Entschädigungen leisten wollen – auch, wenn sie damit nicht an die Öffentlichkeit gehen möchten. Das ist eine unserer Kernaufgaben.
Durch Revisionismus und Verleugnung, die heute vor allem durch die sozialen Medien wieder aufblühen, erhalten Archive wie das Ihre eine neue Bedeutung. Was heisst das für Sie in programmatischem Sinne?
Es bedeutet zum einen, dass die Dokumentation in einer fachlich angemessenen Art, sprich richtig konserviert, aufbewahrt werden muss. Eine grosse Herausforderung für uns, denn diese Institution hat sich früher nie als Archiv verstanden, sondern als Behörde, welche die Dokumente als ganz normale administrative Vorgänge behandelt hat – also nicht mit Samthandschuhen in der tagtäglichen Arbeit damit. Zum anderen sprechen wir von Papier, das aus den Vierzigern stammt, also von sehr schlechter Qualität ist. Es gibt also diesbezüglich sehr viel zu tun. Und gleichzeitig ist es sehr, sehr wichtig, dass die Dokumente zugänglich gemacht werden, bei uns vorwiegend in digitaler Form, um diesen Strömungen entgegenwirken zu können. Also müssen die Dokumente komplett erschlossen werden, damit die Forschung darauf zugreifen kann. Unterschätzt wird derzeit wohl noch, dass anhand dieser unglaublichen Datenmenge neue Erkenntnisse für die historische Forschung gewonnen werden können. Aber derzeit sind die Dokumente noch nicht so weit erfasst, dass die Forscher tatsächlich jene Arbeiten machen können, die sie machen möchten. Deswegen ist die Initiative «Jeder Name zählt» so wichtig.
Ist das Archiv selbst in letzter Zeit in den Fokus von Revisionisten oder Holocaust-Leugnern geraten?
Bis jetzt sind wir extrem wenig angefeindet oder von solchen Strömungen betroffen worden. Wenn etwa Holocaust-Leugner sich an uns wenden, stellen sie die Fragen in einer Art und Weise, dass man gleich merkt, worum es geht.
Wie steht es angesichts anderer Archive mit Materialien zum Zweiten Weltkrieg um die Zentrumsfunktion von Arolsen? Ist es im digitalen Zeitalter noch wesentlich, alles am gleichen Ort zu haben?
Ich glaube, dass es nicht wichtig ist, dass alles an einem Ort liegt. Der Schlüssel liegt in der Vernetzung, und mein Traum ist, dass man mit unserem Archiv als Ursprung den Lebenslauf eines Opfers rekonstruieren kann, indem man auf andere Archive zugreifen kann. Denn die Informationen zu verschiedenen Menschen und Kontexten sind tatsächlich verstreut. Dazu ist noch sehr viel Arbeit zu tun, wobei wir in der einzigartigen Situation sind, dass schon 85 Prozent unseres Archivs digitalisiert sind, während wir in ganz Europa von eher 3 bis 4 Prozent aller Archive sprechen. Solange Archive nicht vollständig digitalisiert sind, kann man sie ja nicht vernetzen.
Arolsen ist ein Vorzeigearchiv, aber es gibt ja auch andere Genozide oder den Kolonialismus. Was unterscheidet Arolsen von anderen Archiven, und was können andere daraus lernen?
Einzigartig sind wir in Bezug auf die internationale Dimension – wir sprechen von Opfern aus der ganzen Welt, aber auch von Dokumenten, die die Zeit nach der Verfolgung und die Aktivitäten der Suchdienstfunktion dokumentieren. Durch letztere haben wir Belege zu Familien, die sich bis heute erstrecken, und über Opfer, die zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Familienmitgliedern gesucht wurden. Jeder Antrag ist damit ein Stück einer Familiengeschichte aus der ganzen Welt seit den Dreissigern bis heute.
Ihr Alltag hat ja mit einer tragischen Vergangenheit zu tun. Gibt es nebst «Jeder Name zählt» auch Projekte, die auf die Zukunft fokussieren?
Ich denke, dass unsere Aufgabe sehr viel mit Gegenwart und Zukunft zu tun hat. Man wird den Opfern nicht gerecht, wenn man nur über die Vergangenheit und die historischen Begebenheiten redet. Uns geht es als Vermittlungsarbeit darum, zusammen mit den Lernenden darüber nachzudenken, was das für uns heute heisst, was wir daraus machen wollen. Die Vorurteile von damals sind nicht aus der Welt, die Verfolgungsgründe noch lange nicht vergessen. Wir signalisieren explizit an die Teilnehmenden von «Jeder Name zählt», dass wir zwar gemeinsam ein digitales Denkmal aufbauen, aber damit ein Zeichen für Vielfalt, Respekt und Demokratie setzen, eine Brücke schlagen. Die meisten machen das eigentlich sehr, sehr natürlich. Dazu haben wir aber auch das schöne Projekt «Stolen Memory», in dessen Rahmen wir gestohlene Effekten zurückgeben. Das sind zwar Gegenstände aus der Vergangenheit, aber sie bewegen die Familien in ihrer Geschichte heute. Oft geht es um das Abschliessen, das Sprechen über Familienmitglieder, und es regt die Familien an, sich Gedanken über heutige Begebenheiten zu machen.
Sie sind Expertin für Menschenrechte. Was ist nach dem Zweiten Weltkrieg falsch gelaufen, dass noch heute die Menschenrechte vielerorts nicht garantiert, Menschen immer noch auf der Flucht sind?
Wir haben zwar die Rahmenbedingungen, die Gesetze, Verfassungen und Normen. Aber die Frage ist wie immer die Umsetzung, die Anwendung. Häufig fehlt es am politischen Willen, und sehr häufig stehen auch Interessen etwa wirtschaftlicher und politischer Natur entgegen. Dazu kommen die Veränderungen der Umwelt, die enorme Auswirkungen auf Menschenrechtsverletzungen haben. Wir sind mit der grössten Migration konfrontiert, die es je gab, und es werden noch mehr Menschen aus Umweltgründen flüchten. Auch hier fehlt, wie immer, der politische Wille, glaube ich. Das ist am Ende immer das Thema.
Was wäre aus Sicht der Menschenrechtskonvention, aber auch der Politik zu tun, damit nicht in 20 Jahren wieder ein Archiv zu den Flüchtlingen erstellt werden muss?
Wir haben in Europa einen rechtlichen Rahmen, was Aufnahme und Prüfung der Anträge von Flüchtlingen angeht. Das ist eine Parallele, die man sehr gut zur Nachkriegszeit ziehen kann: Damals wurden die Anträge auf Auswanderung in die USA, nach Kanada etc. geprüft. Auch die heutigen Anträge müssen mit Goodwill und gerecht geprüft werden, die Flüchtlinge müssen mit würdigen Bedingungen aufgenommen werden, sie müssen die Rahmenbedingungen erhalten, um ein neues Leben beginnen zu können. Wir müssen einfach den Rahmen, den wir in Europa eigentlich haben, respektieren und umsetzen – was so nicht passiert.
Arolsen gehört zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Weshalb ist das wichtig?
Wegen der Sichtbarkeit, die dies diesem Archiv gibt, und die es während Jahrzehnten nicht gehabt hatte. Die Arolsen Archives sind nicht gefährdet, sie sind sehr gut geschützt und finanziert, aber bei der Bewerbung 2013 ging es um die Sichtbarkeit. Letztlich kann ja die Aufarbeitung der eigenen Geschichte auf nationaler wie persönlicher Ebene von der Nutzung unserer Dokumentation extrem profitieren. Ich glaube, dass auch heute noch die wenigsten wissen, dass es dieses Archiv überhaupt gibt. Es gibt vermutlich noch sehr, sehr viele Suchende vor allem aus den ehemaligen Ostblockstaaten, die deswegen nie einen Antrag gestellt haben.
Gerade im Osten gibt es noch viel Nachholbedarf. Haben Sie zu den noch nicht lange geöffneten Archivbeständen Russlands Zugang?
Der Internationale Suchdienst konnte nach dem Mauerfall in verschiedenen Ländern in Mittel- und Osteuropa sehr, sehr viele Kopien relevanter Dokumente machen. Wir sind in der ungewöhnlichen Situation, dass unser Archiv fast zur Hälfte aus Dokumenten anderer Archive besteht. Dies kam dank der guten Zusammenarbeit mit den Rotkreuz-Institutionen zustande.
Werden diese Dokumente aktuell noch bearbeitet?
Sie sind bei uns als Mikrofilme vorhanden, so dass wir Dokumente, die wir brauchen, einsehen können. Wir können auch Nutzer an die Kollegen in entsprechenden Stellen etwa in Moskau verweisen.
Wie können Sie hinter den immensen Zahlen die Einzelschicksale ins Bewusstsein rücken?
Vor allem über die sozialen Medien, und wir verknüpfen das jeweils mit der Aktualität und erzählen etwas Strukturelles zu einer Gruppe. So etwa stellen wir derzeit, während der Olympiade, einzelne Schicksale von Leistungssportlern dar.
Wie steht es denn um den Persönlichkeitsschutz der thematisierten Menschen?
Wir können Geschichten in der Regel publizieren, ohne den Persönlichkeitsschutz zu verletzen, weil die Dokumente älter als 25 Jahre sind. Wobei wir bei unseren Dokumenten, die seit drei Jahren online sind, bisher lediglich fünf Anfragen von Direktbetroffenen zur Entfernung hatten.
Welches sind die nächsten Projekte?
Die Bundesrepublik fördert die Kampagne «Jeder Name zählt» sehr stark, und es besteht die Absicht, damit an die Schulen zu gelangen. Wir möchten damit mehrere tausend Schüler erreichen, damit sie bei der Erfassung helfen und gleichzeitig über den Nationalsozialismus lernen. Dieses Projekt können wir, was ein Glück ist, mit Yad Vashem umsetzen, die uns die digitalen Kopien von sehr wichtigen Such-Karteikarten des Joint aus den USA zur Verfügung stellen, welche dann online zugänglich sind.
Foto:
Floriane Azoulay zieht aus der Geschichte Konsequenzen für den Umgang mit Flüchtlingsfragen in der Gegenwart
©tachles
Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 10. September 2021