Weihnachtliche geschmuckte Kirche in HannoverÜber das Reden von Gott wider alle Vernunft

Klaus Philipp Mertens

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Der Abend des 24. Dezembers ist die hohe Zeit der Märchenerzähler.

Überall in prachtvoll dekorierten römisch-katholischen Kirchen sowie in den weniger schmuckvollen der Protestanten steigen Männer (in den Kirchen der Reformation auch Frauen) auf Kanzeln und erzählen mit Inbrunst die Weihnachtsgeschichte. Ein Umstand, der die besser informierten Zuhörer oder Weghörer innerhalb und außerhalb der Gotteshäuser jedes Jahr neu verwundert. Denn die Prediger haben ein theologisches Studium absolviert, in dessen Verlauf sie gelernt haben, dass die Evangelien des Neuen Testaments keine historischen Berichte sind. Es scheint so, als hielte die christliche Geistlichkeit alljährlich zu Weihnachten Brot und Spiele für die Gläubigen bereit, während sie selbst diese infantile Phase längst überwunden haben, sich dazu aber nicht bekennen.

Die Evangelien sind 100 bis 150 Jahre nach dem Tod des legendären Jesus entstanden. Hinter dieser Gestalt verbirgt sich mutmaßlich ein jüdischer Erweckungsprediger, der eine Erneuerung des alten Glaubens anstrebte. Dieser sollte den Menschen zugewandt sein und nicht überlieferte Religionsgesetze aus einer auch damals bereits lange zurückliegenden Zeit unkritisch anwenden.

Aus heutiger Sicht lässt sich nicht ausschließen, dass Jesus prototypisch war für eine jüdische Reformbewegung, die sich um die Zeitenwende gebildet hatte. Ob er überhaupt gelebt hat und ob er so gelebt hat wie in den sich häufig widersprechenden Erzählungen beschrieben, muss angezweifelt werden. Schließlich bedurften die neuen Gemeinden sinnstiftender Erzählungen, auf historische Genauigkeit kam es dabei nicht an. Historische Dokumente, von Zeitzeugen verfasst, über einen in Bethlehem geborenen, in Nazareth aufgewachsenen und im Judäa beiderseits des Jordans gepredigt habenden Jesus waren nicht vorhanden.

Die Jesus-Erzählungen weisen ohnehin unterschiedliche Ansätze auf, die auf ihre Quellen und ihre Absichten verweisen. In der ältesten Sammlung, die um das Jahr 50 begonnen wurde und als Markus-Evangelium bezeichnet wird, ist Jesus zunächst Gefolgsmann eines Predigers namens Johannes, der in der Wüste zur Umkehr aufruft und seine Anhänger im Jordan tauft. Die Wüste besitzt im Judentum eine heilsgeschichtliche Qualität. Der Auszug der Israeliten aus der Knechtschaft in Ägypten vollzog sich nach der Durchquerung des Roten Meeres in der Wüste und er dauerte laut Überlieferung vierzig Jahre. Es sollte eine Zeit der Selbstfindung sein, während der die drei Hauptbestandteile des Judentums, das von Gott auserwählte Volk, der alleinige Gott und das verheißene Land, jedem neu bewusst werden sollten. An diesem Beispiel wird die Verbindung zwischen der Hebräischen Bibel (dem Alten Testament) und den neuen Bekenntnissen besonders deutlich. Viele Aussprüche Jesu sind direkte und indirekte Zitate aus den heiligen Schriften des Judentums, was nicht nur für das Markus-Evangelium gilt.

In der jüngsten Textsammlung, die um das Jahr 150 abgeschlossen wurde und als Evangelium des Johannes in die biblische Literaturgeschichte eingegangen ist, wird ein völlig anderes Gottes- und Religionsverständnis deutlich. Nämlich das des griechischen Altertums. Das verwundert nicht, denn auch die spätrömische Antike war immer noch griechisch geprägt. Das Koine-Griechisch war als Sprache noch weit verbreitet. In dieser Erzählung wird Jesus als das Gestalt gewordene Wort Gottes beschrieben, das in die Welt der Menschen kam und diese zur Nachfolge aufrief. Marias „unbefleckte Empfängnis“ entspricht den Kopfgeburten der griechischen Götterwelt. Und der Tod Jesu sowie seine Auferstehung haben eine allzu große Ähnlichkeit mit den Blutgerichten, mit denen der Göttervater Zeus seine Familie und die Sterblichen züchtete.
In beiden Evangelien spielt Jesus Geburt übrigens keine Rolle. Er ist da und er predigt.

Die Weihnachtsgeschichte, also die von der Geburt des verheißenen Erlösers, wird nur von Matthäus und Lukas erzählt, die zwischen 70 bis 120 n. Chr. entstanden sind. Auch bei ihnen ist der jüdische Hintergrund noch erkennbar. Doch es ist davon auszugehen, dass es bereits feste neujüdische Gemeindestrukturen gab, deren Existenz einer theologischen Rechtfertigung bedurften. Neben der immer noch wichtigen Tora waren es die Erzählungen über Jesus, der zunehmend die Rolle des verheißenen Messias einnahm, des verheißenen geistlichen und weltlichen Erlösers der Juden.
Doch trotz dieser Übereinstimmung sind beide von unterschiedlichen Erwartungshaltungen der Gläubigen geprägt. Bei Lukas kommt Jesus in sehr einfachen Verhältnissen zur Welt. Seine Eltern finden keine bezahlbare Herberge und müssen mit einem Stall vorliebnehmen. Das Kind wird in eine Viehkrippe gelegt. Bei Matthäus hingegen ist von Armut nicht die Rede, vielmehr wird das Neugeborene von den Abgesandten ausländischer Könige, den sogenannten Weisen aus dem Morgenland, reich beschenkt.

Die historisch-kritische Erforschung der Bibel hat nachgewiesen, dass insbesondere in Lukasevangelium und Matthäusevangelium die Zukunftshoffnungen der neuen Gemeinden eingeflossen sind. Diese Evangelien waren weniger der Grund ihrer Entstehung, sondern machen das „Was nun?“ deutlich, das die neuen Gruppen bewegte. Diese waren sich offensichtlich nicht in allen Punkten ihrer Heilserwartung einig. Sie dürften nicht nur erbaulich miteinander gesprochen, sondern auch heftig gestritten haben. Während die Bergpredigt bei Matthäus als die vorherrschende ethische Grundlage der Judenchristen gelten kann, sind Lukas und sein Kreis, denen wir die rührselige Weihnachtsgeschichte verdanken, hinsichtlich des Reiches Gottes auf Erden völlig anders gestrickt. Im Kapitel 12, in den Versen 49 und 51, heißt es: „Ich bin gekommen, dass ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, es würde bereits brennen! [...] Meinet ihr, dass ich hergekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht.“

Anders als lange Zeit von den Kirchen behauptet, handelt es sich bei den Evangelien also keinesfalls um Zeitzeugenberichte über das Leben Jesu. Sie sind sinnstiftende Erzählungen, Mythen, Legenden, in denen es nicht darum ging, historische Fakten zu übermitteln, sondern Geschichten zu erzählen, mit denen der Glaube gestärkt werden sollte.

Dabei wurde auf die traditionelle jüdische Heilsgeschichte zurückgegriffen. So wird Bethlehem als Jesu Geburtsort eingeführt, weil der Ort als Stadt Davids bekannt war. Aus ihr würde nach Überzeugung vieler Propheten des Alten Testaments der künftige Erlöser, der Messias (hebräisch: Maschiach) kommen.

Zu der Zeit, als die Evangelien niedergeschrieben wurden, beherrschte der hellenistische Mithras-Kult die Alte Welt. Mithras war ein Sonnengott, der von seinem göttlichen Vater ausgesandt worden war, um das Dunkle in der Welt zu überwinden. Damit war das Böse, also die menschlichen Unzulänglichkeiten, gemeint. Diese Funktion ließ sich lückenlos auf Jesus übertragen. Mithras sammelte zwölf engste Begleiter um sich, mit denen er vor seinem Opfertod ein Mal feierte. Und so wie Jesus der Legende nach vom Tode auferstanden ist, überwand auch Mithras Tod und Grab und kehrte in die göttliche Familie zurück.

Bleibt noch zu erwähnen, dass die Wintersonnenwende als Tag des Mithras galt. Des Gottessohnes, dem Sinnbild der Sonne, wird nach dem die längste Nacht und der kürzeste Tag überwunden ist und alles allmählich wieder heller wird, gedacht.

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Weihnachtlich geschmückte Kirche in Hannover
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