de.wikipedia.demulAm 11. Mai 1952  schossen Polizisten der Bundesrepublik erstmals mit scharfer Munition auf Demonstranten, Teil 1/11

Kurt Nelhiebel

Bremen (Weltexpresso) - Redaktionelle Vorbemerkung: Am 11. Mai jährt sich zum 70. Male der Tag, an dem erstmals in der Bundesrepublik ein Demonstrant bei einer verbotenen Kundgebung gegen die Wiederbewaffnung von der Polizei erschossen wurde. In elf Fortsetzungen erscheinen dazu täglich Erinnerungen.

»Wissen wir auch nur von einer einzigen Schlacht, wie sie sich wirklich abgespielt hat«, fragt Gustave Le Bon in »Psychologie der Massen«, und er antwortet darauf in einer Fußnote zum Kapitel »Beeinflussbarkeit und Leichtgläubigkeit der Massen«: »Ich zweifle sehr daran. Wir kennen nur Sieger und Besiegte, aber wahrscheinlich weiter nichts.«

Das las ich zu Beginn meiner Suche nach der Wahrheit über ein Ereignis, das als Lehrstück der Desinformation bleibendes Interesse verdient: das verbotene Essener Jugendtreffen gegen die deutsche Wiederbewaffnung vom 11. Mai 1952, bei dem erstmals nach Kriegsende ein Demonstrant von der Polizei erschossen wurde. Anders als der Name des Studenten Benno Ohnesorg, der 15 Jahre später in Berlin bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien von einer Polizeikugel getötet wurde, ist der Name dieses Toten weitgehend unbekannt. Die meisten wissen nicht einmal, dass es diesen Toten überhaupt gegeben hat. Als Polizisten den leblosen Körper Philipp Müllers vor den Kruppschen Krankenanstalten in Essen aus einem Lautsprecherwagen luden, will eine Augen- und Ohrenzeugin gehört haben, wie einer der Beamten zu dem anderen sagte: »Das Schwein ist schon tot«.

In Zeiten wie diesen von einem einzigen Toten zu sprechen, mag unangemessen erscheinen, aber mitunter gerinnt ein Stück Zeitgeschichte zum Namen eines Einzelnen. Der 21-jährige Eisenbahnarbeiter Philipp Müller aus München-Neuaubing gehörte der Freien Deutschen Jugend (FDJ) an, die im Jahr davor als verfassungswidrige Organisation verboten worden war. Ihr wurde unter anderem vorgeworfen, sich an einer von den Kommunisten organisierten Volksbefragung gegen die Remilitarisierung beteiligt zu haben. Wie tief damals das Unbehagen über die Pläne zur Aufstellung deutscher Streitkräfte saß, offenbarte unter anderem der Wunsch des Bundespräsidenten Theodor Heuß, das Bundesverfassungsgericht möge ein Rechtsgutachten über die Vereinbarkeit der Gesetze zur Einführung der Wehrpflicht mit dem Grundgesetz erstatten. Als die Karlsruher Richter mit taktischen Winkelzügen reagierten, zog Heuß seinen Antrag – sichtlich verärgert – zurück. Die SPD verlangte 1952 vom Bundesverfassungsgericht die »vorbeugende 
Feststellung«, dass ein Gesetz über die Wiederbewaffnung »ohne vorangegangene Ergänzung und Abänderung des Grundgesetzes weder förmlich noch rechtlich« mit dem Grundgesetz zu vereinbaren sei. Das Gericht wies den Antrag als unzulässig zurück, »da die gesetzgebenden Körperschaften 
ihre Beratungen noch nicht abgeschlossen« hätten.

In der öffentlichen Diskussion firmierten die vertraglichen Abmachungen über die Wiederbewaffnung unter der Bezeichnung Generalvertrag. Mit der Parole »Friedensvertrag statt Generalvertrag« bewegten sich die Initiatoren der Essener Veranstaltung nicht auf sektiererhaft abseitigem Gelände. 
Die Idee einer Jugendkarawane für den Frieden, die in den »Darmstädter Aktionsgruppen« um den Studentenpfarrer Herbert Mochalski entstanden war, fand großen Anklang. Der Bundesfeldmeister der deutschen Pfadfinder, Werner Plaschke, wollte dort ebenso sprechen wie der hessische Landesvorsitzende der »Falken«, Rudi Arndt, und der aus Protest gegen Adenauers Eigenmächtigkeit in Sachen Wiederbewaffnung zurückgetretene CDU-Innenminister und spätere SPD-Bundespräsident Gustav Heinemann.

Als Leiter der Kundgebung auf dem Essener Gerlingplatz sollte der Theologiestudent Arnold Haumann fungieren. Die Dortmunder Staatsanwaltschaft sprach später von einem »zunächst parteipolitisch farblosen Unternehmen«, das von gut ausgebildeten Funktionären in eine Demonstration der FDJ um gefälscht worden sei. Bei der Anmeldung des Treffens am 8. Mai gab es gleichwohl keine Probleme. Haumann informierte das Essener Ordnungsamt, dass etwa 20.000 Teilnehmer erwartet würden und bat »höflichst« um die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der Veranstaltung. (Fortsetzung folgt).

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Info:
Auszug aus „Gegen den Wind“, vom selben Verfasser. PapyRossa Verlag, 2017