Center for Critical Computational Studies (C3S) der Goethe-Universität stellt mit hochkarätiger Veranstaltung neuen Forschungsschwerpunkt vor
Redaktion
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Mit der Veranstaltung „Planetary Hopes“ (planetare Hoffnungen) hat das neue Center for Critical Computational Studies (C3S) der Goethe-Universität am Donnerstag seinen Forschungsschwerpunkt Earth·Nature·Society der Öffentlichkeit vorgestellt. Wissenschaftler*innen aus Frankfurt und ihre Gäste beschäftigten sich dabei insbesondere mit der Frage, ob und wie computer- und datengestützte Methoden zur Lösung planetarer Polykrisen beitragen können.
Der wegen der Erderwärmung steigende Meeresspiegel lässt Küstenstädte unbewohnbar werden. Der Verlust an Biodiversität und die Einwanderung von Arten wegen neuer klimatischer Bedingungen verändern die Landwirtschaft. Massive wirtschaftliche Belastungen und Migrationsbewegungen sind die Folge – wie hängen sie miteinander zusammen? Und umgekehrt: Wie sind wir Menschen, unsere Wirtschaftsweise und unsere Gesellschaftsstruktur mitverantwortlich für diese Veränderungen unseres Planeten? Was ist also zu tun, um planetare Polykrisen zu bewältigen? Computermodelle können helfen, die komplexen Zusammenhänge an den Schnittstellen zwischen Geophysik, Ökosystemen und Gesellschaft zu begreifen und Lösungsansätze kritisch zu untersuchen.
Das Center for Critical Computational Studies (C3S) der Goethe-Universität forscht zu Wechselwirkungen von Digitalität und Demokratie und zu den Dynamiken des Wandels. „Gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich immer schneller, und unsere Handlungen als Menschen haben immer drastischere Folgen für die Stabilität des Planeten. Als Präsident dieser Universität bin ich deshalb mit der Idee angetreten, ein Zukunftsinstitut zu gründen, das sich auf besondere, interdisziplinäre Weise der Herausforderungen unserer Zeit des Wandels annimmt, die immer dringlicher werden“, erklärt Prof. Dr. Enrico Schleiff, Präsident der Goethe-Universität, der die Veranstaltung „Planetary Hopes“ eröffnete. „Digitalität ist nicht nur ein Treiber der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation, sie ist auch ein Instrument, mit dessen Hilfe wir die Welt besser verstehen und unsere Zukunft gestalten können, in Verantwortung für Mensch, Gesellschaft und Natur. Wir brauchen das Wissen und die gemeinsamen Ansätze unterschiedlicher Fachrichtungen und wir brauchen hoch entwickelte Modelle, Berechnungsmethoden und -techniken, um die sogenannte Polykrise zu verstehen und besser beeinflussen zu können. Es geht dabei immer auch um Fragen der Rechtfertigung und Fragen der Gerechtigkeit. Ich bin stolz, das wir als Goethe-Universität diesen Weg inhaltlich und auch physisch mit der perspektivischen Sanierung der ehemaligen Botanik und Zoologie in der Siesmayerstrasse eingeschlagen haben.“
Bei einem Pressegespräch vor Beginn der Veranstaltung stellte Hessens Wissenschaftsminister Timon Gremmels das C3S in den Kontext verwandter hessischer Einrichtungen: „Wir haben hier ein einzigartiges wissenschaftliches Ökosystem gerade in den Themenfeldern IT, Hochleistungsrechnen, Quantencomputing, Künstliche Intelligenz und Big Data“. Mit Blick auf das C3S und dessen Schwerpunkt Earth Nature Society hob er hervor: „Wie hier Digitalität und Anthropozän, also unser vom Menschen maßgeblich gestaltetes Zeitalter, zusammengebracht werden, setzt Maßstäbe. Mich fasziniert am C3S insbesondere die Interdisziplinarität: Hier sind per se IT-nahe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Bioinformatikerinnen oder Spezialisten für Algorithmen ebenso beteiligt wie Juristen und Erziehungswissenschaftlerinnen. Ich bin froh und stolz darauf, dass eine hessische Universität eine so innovative Einrichtung hervorbringt.“
„Mit den ,Critical Computational Studies‘ schlagen wir Brücken – zwischen wissenschaftlichen Disziplinen und zwischen Wissenschaft und Gesellschaft“, erläuterte Prof. Dr. Christoph Burchard, Gründungssprecher des C3S sowie Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht, Rechtsvergleichung und Rechtstheorie an der Goethe-Universität. „Kritisch heißt, dass wir computer- und datengestützte Methoden hinterfragend entwickeln und anwenden. Es heißt auch, dass wir ein besonderes Augenmerk auf wesentliche, also kritische Ereignisse wie die menschgemachte Erderwärmung oder die Auswirkungen von KI auf Demokratie legen. Nur so können wir unsere digitalen Zukünfte mitgestalten und zugleich das in den Blick nehmen, was wir nicht mehr vollends kontrollieren. Und das bedeutet, dass wir im C3S essenzielle, also auch in diesem Sinne kritische Aufgaben unserer Zeit angehen, in der das Verhältnis zwischen Mensch, Technik und Natur zunehmend brüchig wird.“
Das C3S hat auch eine Lehr-, Lern- und Bildungsprogrammatik: Es will Critical Computational Literacy vermitteln, also notwendige Kompetenzen und Haltungen, um computer- und datengestützte Technologien kenntnisreich und verantwortbar anzuwenden und weiterzuentwickeln. Unter anderem vernetzt dazu Prof. Dr. Hendrik Drachsler in seinen Funktionen als PI am C3S und als Leiter von studiumdigitale die beiden Institutionen. Bei der Veranstaltung „Planetary Hopes“ waren zwei Beispiele für digitale Vermittlungsmethoden aus dem Projekt „Future Learning Spaces“ (kurz: fuels, Leitung: Prof. Dr. Alexander Tillmann), zu sehen, einem vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Forschung gefördertes Verbundprojekt, in dem die Goethe-Universität gemeinsam mit der TU Darmstadt und der Hochschule Darmstadt innovative Lehr- und Lernszenarien entwickelt. Die Virtual Reality (VR)-Anwendung GeoVR lässt in die Entwicklung der Landschaft und der Umwelt der Region Edersee/Kellerwald eintauchen. Im Planspiel „Artificial Intelligence Act – Europe“ schlüpfen Lernende dank VR in die Rolle von EU-Abgeordneten im Plenarsaal.
Zu Beginn der Veranstaltung, die auf dem Campus Westend und zusätzlich auf Zoom stattfand, stellte die Gründungsdirektorin Prof. Dr. Juliane Engel des C3S Perspektiven auf den neuen Themenschwerpunkt vor. Impulsvorträge kamen von der Vizepräsidentin der Universität für Chancen, Karriereentwicklung, Karriereförderung, Diversität und Gleichstellung, Prof. Dr. Sabine Andresen, der Frankfurter Stadträtin für Digitales, Eileen O’Sullivan, sowie Dr. Nico Wunderling vom Potsdam Institut für Klimafolgenforschung, der sich mit der Berechenbarkeit von Kipppunkten unterschiedlicher Systeme und ihrer Abhängigkeit untereinander befasste.
Prof. Dr. Ilona Otto, Professorin für Gesellschaftliche Auswirkungen des Klimawandels am Wegener Center für Klima und Globalen Wandel an der Universität Graz, betrachtete in ihrer Keynote „Socio-metabolic conflicts in the Anthropocene“, also Konflikte zwischen sozialen Gruppen mit unterschiedlichem Energie- und Ressourcenverbrauch unter den Vorzeichen globaler Umweltveränderungen. Prof. Dr. Klement Tockner, Generaldirektor der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, sprach über den One-Health-Ansatz, der auf dem Verständnis beruht, dass die Gesundheit von Mensch, Tier und Umwelt eng miteinander verwoben ist. Moderiert wurden die Keynotes von Prof. Dr. Thomas Hickler, Professor für Quantitative Biogeographie an der Goethe-Universität, und Prof. Dr. Jochen Blath, Leiter der Fachgruppe Stochastik am Fachbereich Mathematik der Goethe-Universität.
Bei einer Podiumsdiskussion unter Moderation von Prof. Dr. Indra Spiecker genannt Döhmann von der Universität zu Köln tauschten sich u. a. Thomas Langkabel, National Technology Officer von Microsoft Deutschland, Dr. André Ullrich vom Weizenbaum-Institut und die Professor*innen Otto und Tockner aus.
C3S-Gründungsdirektorin Prof. Franziska Matthäus schloss die Veranstaltung mit Dankesworten und einem Ausblick.
Das C3S ging im April 2023 als zentrale wissenschaftliche Einrichtung an der Goethe-Universität an den Start. Gründungsmitglieder des C3S sind:
Prof. Dr. Christoph Burchard, Gründungssprecher, Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht, Rechtsvergleichung und Rechtstheorie an der Goethe-Universität und Leiter des Forschungsnetzwerks Normative Orders.
Prof. Dr. Franziska Matthäus, Gründungsdirektorin für Lehre. Sie hat an der Goethe-Universität die Giersch-Professur für zelluläre Bioinformatik inne, die mit den Fachbereichen Informatik und Mathematik sowie Biologie verbunden ist.
Prof. Dr. Juliane Engel, Gründungsdirektorin für Transfer. Sie ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schule und kultureller Wandel und forscht insbesondere zu Bildungsprozessen und Lernen im Kontext gesellschaftlicher Transformationsdynamiken.
Prof. Dr. Ulrich Meyer, Gründungsdirektor für Forschung. Er hat den Lehrstuhl für Algorithm Engineering an der Goethe-Universität inne und erforscht sowohl theoretische als auch experimentelle Aspekte der Verarbeitung großer Datensätze mit fortschrittlichen Berechnungsmodellen.
Mindestens zwölf neue Professuren sollen am C3S perspektivisch gemeinsam mit weiteren internen und externen Forschenden die Critical Computational Studies zu einem eigenständigen Forschungsprofil entwickeln, das sich auch auf Lehre und Ausbildung erstreckt. Dabei erfolgt die Besetzung in einem neuartigen Verfahren: Vorbereitend finden Workshops statt, bei denen die Goethe-Universität herausragende Kolleg*innen und spannende Ideen sondiert. Das erfolgt open rank und open discipline, das heißt ohne Vorfestlegung auf bestimmte Disziplinen, und mit letztendlicher Einstufung gemäß den Qualifikationen und Erfahrungen der Kandidat*innen. Die eigentlichen Berufungsverfahren finden dann mit Findungskommissionen statt.
Angedacht sind Forschungsteams zu Feldern wie den Schnittstellen zwischen klassischer Netzwerkwissenschaft und Deep Learning; der Berechnung von Kippelementen und ihren Wechselwirkungen bei fortschreitender Klimaerhitzung; der Modellierung der sozialen und sozioökonomischen Triebkräfte und Auswirkungen der Erderwärmung sowie von Ökosystemen und Biodiversität in ihrer Wechselbeziehung dazu; Kritik des Computerwesens: Kritische Datenwissenschaft; Ethik der Datenverarbeitung; Wissenschafts- und Technologiestudien; Wissenschaft, Philosophie und Geschichte der Computertechnologie; Vorhersagen in komplexen Systemen; Fortgeschrittene Simulation in den Lebenswissenschaften und in den Sozialwissenschaften.
Foto:
Hessens Wissenschaftsminister Timon Gremmels beim Selbstversuch
©Uni Frankfurt
Bildtexte:
Bild 1-4: Pressegespräch zur Veranstaltung mit (v.l.) Dr. Nico Wunderling, Prof. Dr. Christoph Burchard, Timon Gremmels, Prof. Dr. Enrico Schleiff, Prof. Dr. Juliane Engel und Universitäts-Pressesprecher Volker Schmidt
Bild 5 & 6: Wissenschaftsminister Gremmels taucht per VR-Brille in die Geologie des Naturparks Kellerwald-Edersee ein.
Alle Fotos: Uwe Dettmar
Kipppunkte, Klimawandel, Computermodelle: Digitale Lösungen für die Herausforderungen von Erde, Natur und Gesellschaft
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- Kategorie: Wissen & Bildung